Offener Brief
Präsidium der
FDP - Die Liberalen
Neuengasse 20
3011 Bern
Aus Liebe zur Schweiz? Wo bleiben Ihr Mut und Ihr Verstand in der Flüchtlingspolitik?
Sehr geehrte Damen und Herren der FDP – Die Liberalen
Ihre Partei führt den Wahlkampf 2011 unter dem Motto «Aus Liebe zur Schweiz». Die Liebe zur Schweiz teilen wir – wenn auch aus anderen Gründen. Liebe zu ihrer Heimat haben auch diejenigen Menschen bewiesen, die in den vergangenen Wochen zunächst in Tunesien und danach in Ägypten auf die Strasse gingen und für ein Ende der Diktaturen in diesen Ländern gesorgt haben. Sie haben ihr Leben riskiert im Kampf für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, gegen Folter und Unterdrückung, gegen Korruption und Ausbeutung durch herrschende Cliquen, die das Vermögen des Volkes zu ihrer eigenen Bereicherung nutzten.
Der Zusammenbruch der Diktaturen hat bewirkt, dass auch jene Repressionsmechanismen zusammengebrochen sind, die die Menschen – ähnlich wie in Osteuropa während des Kalten Krieges – am Verlassen des Landes gehindert haben. Nach Jahrzehnten des Einschlusses profitieren nun auch die Tunesierinnen und Tunesier von Möglichkeiten, ihr Land zu verlassen – ein Recht, das in allen internationalen Menschenrechtserklärungen und -konventionen verbrieft ist.
Für uns ist inakzeptabel, dass in den letzten Tagen gerade PolitikerInnen ihrer Partei erklärten, jene Tunesierinnen und Tunesier, die jetzt ihr Land verlassen, seien allesamt «Wirtschaftsflüchtlinge, die sofort zurückgeschickt werden müssen» (Frau Karin Keller- Sutter im «20 Minuten» v. 15.2.2011). Solche Äusserungen sind verwerflich, denn alle, die ein Asylgesuch stellen, haben auch ein Recht darauf, dass dieses in einem fairen Verfahren geprüft wird – zumal es in Phasen politischen Umbruchs auch zu neuen Repressionen kommen kann. Ohnehin werden nur die wenigsten tunesischen Flüchtlinge in die Schweiz kommen. Statt sie wieder zurück nach Italien als den erstzuständigen Dublin-Staat zu schicken, sollte die Schweiz auf diese Gesuche eintreten. Das lässt Art. 15 der Dublin-Verordnung ausdrücklich zu.
Darüber hinaus ist es schlicht und einfach heuchlerisch, die freiheitlichen Revolutionen in Nordafrika aus sicherer Distanz zu bejubeln, aber all jenen, die die neu gewonnenen Freiheiten nutzen wollen, die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Sie, die FDP, haben die stalinistischen Diktaturen Osteuropas wegen der fehlenden Ausreisefreiheit verurteilt. Sie, die FDP, diskreditieren sich selbst, wenn sie heute Europa und die Schweiz gegen Flüchtlinge und ImmigrantInnen aus Nordafrika abriegeln wollen.
Die Schweizer Bevölkerung zollt den mutigen Protestierenden Respekt, weil sie Freiheit und Demokratie zu schätzen weiss. Sie ist sicher bereit, diesen Menschen auch hier eine Chance zu geben. Sie, die FDP, geben vor, die Schweiz und ihre Freiheit zu lieben und mit «Mut und Verstand» für sie einzustehen. Es stünde Ihnen gut an, sich auf ihre liberalen Wurzeln zu besinnen und auch die Freiheit anderer zu respektieren.
Solidarité sans frontières
Demokratische Juristen und Juristinnen der Schweiz
Für Auskünfte:
- Catherine Weber | Geschäftsführerin DJS-JDS | 031 312 83 34
- Moreno Casasola | Geschäftsführer Solidarité sans frontières | 078 612 75 17