Der Irrglaube, Migration liesse sich wie ein Wassersystem regulieren, hält sich hartnäckig. Abschreckungsmassnahmen als Schleusentore, negative und positive Anreize als Kanalisierungsinstrumente und neuerdings die Illegalisierung als Evaporationsmethode besetzen das offizielle Verständnis von Migrationspolitik. Trotz neuer Ausgrenzungsmassnahmen, Verwaltungsstrukturen und zwischenstaatlicher Kooperationsformen findet Einwanderung weiterhin statt: Die offizielle Migrationspolitik beruht auf der falschen Theorie.
Überleben trotz staatlicher Behinderung
Migration ist eine Überlebensstrategie von Benachteiligten und lässt sich nicht von oben steuern. Eine positive Haltung gegenüber dem Staat könne nur die Minderheit der Wohlhabenden in den reichen Ländern pflegen, schreibt der namhafte Migrationsforscher Stephen Castles. Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebe in Staaten mit überbordender Korruption und Gewalt. Sie habe lernen müssen, trotz den staatlichen Behinderungen und Bedrohungen zu überleben. Aus dieser Perspektive seien ausgrenzende Migrationsgesetze bloss eine von vielen staatlichen Hürden, die im Überlebenskampf überwunden werden müssen. Migrationswillige würden nicht zu Hause bleiben, nur weil die Zielländer sie nicht willkommen hiessen – umso weniger, als der Arbeitsmarkt andere Zeichen sende.
Unmenschlicher Druck
Die mechanistischen Migrationsvorstellungen von Behörden und PolitikerInnen sind nicht nur realitätsfremd sondern auch g efährlich. Weil sich die zu Sans-papiers gemachten Asylsuchenden nicht wie Wasserdampf in der Luft auflösen lassen, werden sie zunehmend unter unmenschlichen Druck gesetzt. Selbst mehrmonatige Beugehaft bringt sie nicht zum Verschwinden. So legte die Ausschaffungspolizei kürzlich einer Mutter von zwei Kindern die Fotos von Menschen in Level-4-Knebelung vor, unter der Androhung, dass ihr dieselbe folterähnliche Strafe drohe, wenn sie nicht «freiwillig» Ausreise. Das G efügigmachen durch Elektroschocks ist geplant. Und die vom Bundesrat vorgeschlagenen asylgesetzlichen Neuerungen nehmen in Kauf, bedrohte und g efährdete Asylsuchende, die nicht gleich bei ihrem Gesuch die für ihre Ausschaffung benötigten Papiere (Pass oder ID) vorlegen, aus dem Asylverfahren auszuschliessen. Als Gegenleistung für die Rückübernahme von Asylsuchenden ist der Bundesrat bereit, dem Herkunftsstaat sensible Daten über die Ausgeschafften zu li efern. Eine Banalisierung von behördlicher Willkür und Grausamkeit nimmt den Verlust von Rechtsstaatlichkeit in Kauf.
Anni Lanz