Globale Krise und Migration
Die Finanzkrise wird medial vor allem als Krise der Zentren des industriellen und des Dienstleistungskapitalismus vermittelt. Aber selbstredend treffen die Auswirkungen der Krise nicht nur die Banken, sondern auch die so genannte «Realwirtschaft». Die Konsequenzen sind am heftigsten für ImmigrantInnen, die hier als Personen minderen Rechts oder gar als Rechtlose arbeiten, und damit gleichzeitig für ihre Herkunftsländer.
HEINER BUSCH & BALTHASAR GLÄTTLI
Dieses Thesenpapier als pdf (5 S., 557 KB) / Gegenthesen von Anni Lanz
Bereits in den ersten Monaten der Krise vermeldeten die Medien den Rausschmiss unzähliger asiatischer ArbeiterInnen aus den Arabischen Emiraten und die «freiwillige» Rückwanderung von lateinamerikanischen ArbeiterInnen aus den USA. Diverse internationale Organisationen machten darauf aufmerksam, dass dies auch deren Herkunftsstaaten treffen würde, weil diese in starkem Masse von den Remissen, also Rücküberweisungen von ausländischen ArbeiterInnen nach Hause, abhängig seien. Dass Remissen in verschiedenen Ländern einen wesentlichen Teil des Bruttoinlandprodukts (BIP) ausmachen, ist bekannt. Mit 36 Prozent des BIP standen Tadschikistan und Moldawien im Jahre 2006 an der Spitze einer entsprechenden Rangliste der Weltbank. Unter den ersten Zwanzig befanden sich aber auch Bosnien (17 Prozent), Albanien (15 Prozent) und Serbien/Montenegro (damals noch mit Kosovo, 14 Prozent). Der Rückgang der Remissen bedroht also auch Länder, aus denen viele ImmigrantInnen hier im nördlichen Europa stammen. (Le Temps, 19.1.2009).
I Schweizer Krise mit weltweiter Wirkung
Während die offizielle staatliche schweizerische Entwicklungshilfe noch immer nicht die empfohlenen 0.7% des BIP erreicht, spielt die Schweiz in der obersten Liga jener Länder mit, aus denen Remissen fliessen. Nach den USA (42,2 Milliarden US$) und Saudi-Arabien (15,6 Milliarden US$) stand die Schweiz laut Weltbank mit 13,8 Milliarden US$, die jährlich als Remissen in Herkunftsländer von ausländischen ArbeiterInnen fliessen, weltweit an dritter Stelle (gefolgt von der BRD mit 12,3 Mrd). (Le Temps, 19.1.2009). Entsprechend wird ganz spezifisch auch die Krise der schweizerischen Wirtschaft weit mehr als nur lokale Auswirkungen haben.
II «migration jetable» in Zeiten der Krise: attraktiver denn je
Das bereits zitierte Beispiel der Golfstaaten ist symptomatisch. Etwa 13 Millionen Menschen, damit mehr als ein Drittel der 35 Millionen EinwohnerInnen der Region, sind hier rechtlose WanderarbeiterInnen aus Südasien (Pakistan, Indien, Sri Lanka, Philippinen …) und dem arabischen Raum (Palästina, Ägypten), mit denen je nach Bedarf verfahren werden kann. Sie wurden über Jahre hinweg ohne jegliche Sicherheit ausgebeutet. Wenn die Arbeitsverträge auslaufen, gelten sie als Illegale und müssen verschwinden.
Sie sind die wohl deutlichste Illustration dessen, was «Wegwerfmigration» («migration jetable») bedeutet. Der Begriff wurde aber nicht umsonst in Frankreich geprägt. Das Konzept, dass ImmigrantInnen in erster Linie für die Einwanderungsländer «nützlich» sein soll, durchzieht die gesamte europäische Einwanderungspolitik – und zwar nicht erst, seit der Begriff im Zusammenhang mit der Diskussion um Sarkozys EU-Einwanderungspakt bekräftigt wurde, sondern bereits seit der Anwerbung ausländischer «Gastarbeiter» in der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg und erst recht seit der «Ölkrise» 1973/74, als die meisten nordeuropäischen Staaten einen Anwerbestopp verhängten mit der Perspektive, die Zahl der «Gäste» zu reduzieren. Im Bericht der «Zukunftsgruppe», dem Blueprint für das nächste Fünfjahresprogramm der EU-Innen- und Justizpolitik vom Juli 2008, wird das noch einmal festgehalten. Die «Zuwanderung» von ausserhalb der EU müsse an die «Bedürfnisse des Arbeitsmarktes» in den Mitgliedstaaten gebunden werden. Sie solle sich möglichst in Form von «zirkulärer Migration» abspielen, mit anderen Worten: Sie soll von vorneherein befristet sein, damit man die ImmigrantInnen wieder loswerden kann, wenn sie nicht mehr «nützlich» sind. In erster Linie setzt die EU auf das Reservoir von Arbeitskräften, das sich aus der Freizügigkeit im EU-Raum ergibt.
Was das in der Krise bedeutet, kann an zwei Beispielen in der EU besichtigt werden: Nach dem Wahlsieg der PSOE 2004 schien sich der Umgang mit ImmigrantInnen im spanischen Staat erheblich zu verbessern. Die Regierung Zapatero erliess 2005 eine grosse Amnestie und «normalisierte» damit den Aufenthalt von rund 700 000 Sans-Papiers – etwa der Hälfte der damals im Land anwesenden Leute ohne Bewilligung –, die in erster Linie in der Intensiv-Landwirtschaft und im boomenden Bausektor, aber auch in der Hausarbeit und im Pflegebereich beschäftigt waren. In ihrer zweiten Amtszeit, in die seit Herbst letzten Jahres auch die Krise und der massive Absturz des Immobiliensektors fällt, hat die Regierung Zapatero ihren migrationspolitischen Diskurs ebenso massiv verändert. Man ist zurückgekehrt zur fixen europäischen Idee, dass die Einwanderung eben doch nur temporär sei, was nicht der Realität entspricht. Statt weiterer Legalisierungen setzt die Regierung nun deutlich auf Abschottung der Grenzen und «Bekämpfung der illegalen Einwanderung». Rückkehranreize stehen nun zur Debatte. So sollen Rückreisende bei der Abreise 40%, und bei Ankunft im Heimatland die restlichen 60% ihrer Sozialversicherungsansprüche erhalten – in der Hoffnung, dass der Kaufkraftunterschied und die rasche Gesamtauszahlung einen genügenden Ausreiseanreiz darstellen und so die einheimische Wirtschaft und die Arbeitslosenzahlen entlasten würden.
Das andere Beispiel ist Britannien. Anders als die meisten EU15-Staaten hat das Vereinigte Königreich bereits sehr frühzeitig die Beschränkungen für Arbeitskräfte aus den 2004 und 2007 beigetretenen EU-Staaten aufgehoben. Polnische Arbeiter wurden systematisch als billigere Arbeitskräfte eingesetzt. Das ging umso einfacher, als der Europäische Gerichtshof in mehreren Urteilen in den vergangenen Jahren praktisch die Bolkestein-Richtlinie über die justizielle Hintertür eingeführt hat. Arbeitskräfte aus anderen EU-Staaten können nunmehr nach GAVs in ihren Herkunftsstaaten beschäftigt werden. Eine Bindung an das Lohnniveau des Staates, in dem sie arbeiten, ist nicht mehr erforderlich.
Bezeichnenderweise trifft gerade die PolInnen seit Beginn der Krise ein scharfer Rassismus, der auch von Teilen der Gewerkschaften zumindest akzeptiert wird. Britische Arbeiter sollen an erster Stelle stehen, lautet die Devise. Viele PolInnen sind deshalb in den letzten Monaten zurückgegangen.
III Eine mehrdimensionale Analyse ist nötig
Bei der Analyse der Auswirkungen der Finanz- und der in ihrer Folge aufgetretenen Wirtschaftskrise im Migrationsbereich müssen verschieden Analysekriterien und ihre Wechselwirkungen in Betracht gezogen werden:
- Legale Migration – illegalisierte Migration - Wirkungen auf die/in den Zielländern – Wirkungen auf die/in den Herkunftsländern - Zeitliche Dimension: rasch sichtbare versus verzögerte Auswirkungen - Spezifische Auswirkungen auf bestimmte Branchen / genderspezifische Auswirkungen
IV Was bedeutet das für die Schweiz?
In einer ersten Skizze sollen in den nächsten Abschnitten mögliche Auswirkungen auf die Schweiz besprochen werden.
- Die Auswirkungen des Freizügigkeitsmodells
Das Freizügigkeitsmodell wurde in den vergangenen Jahren primär als Erfolgsmodell erlebt. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs trug es dazu bei, dass der schweizerischen Wirtschaft genügend qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung standen. In der gleichen Logik stellt das Freizügigkeitsmodell allerdings auch darauf ab, in der Krise Eingewanderte abzudrängen. Einerseits werden keine oder zumindest weniger Arbeitskräfte rekrutiert und es kommen auch weniger selbständig. Das zeigt sich zunächst am Rückgang der Einwanderungen aus den EU-Staaten ab Oktober/November 2008. Von November auf Dezember ging die Zahl der Einwanderungen aus EU15/EFTA-Staaten um fast ein Drittel auf 8 296 zurück (Der Bund v. 12.1.2009). Wie sich andererseits der Wegfall von Stellen oder gar Entlassungen auswirken, ob gar eine Rückwanderung stattfindet, ist noch nicht absehbar. Direkt durchschlagen dürfte das bei KurzaufenthalterInnen, deren Stellen befristet sind und die gar nicht erst in der Arbeitslosenstatistik auftauchen. JahresaufenthalterInnen haben bei Arbeitslosigkeit Anspruch auf Arbeitslosengeld. Erst wenn dieses ausläuft, stellt sich die Frage der Rückwanderung. - Arbeitslosigkeit bei ImmigrantInnen
Bereits generell liegt die Arbeitslosenrate der ausländischen ArbeitnehmerInnen in der Schweiz durchgängig über derjenigen der SchweizerInnen und schwankt saisonal sehr deutlich. In den letzten Monaten stieg sie aber im Zusammenhang mit der sich anbahnenden Wirtschaftskrise ebenso merklich rascher an.
Ob es sich bei diesem Anstieg wiederum nur um einen saisonalen handelt, ob und wie weit die Arbeitslosenquote bei den ausländischen ArbeiterInnen während des Sommers zurückgeht, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Erkennbar ist zunächst, dass der saisonale Peak in den letzten Jahren im Dezember oder Januar war, dieses Mal aber erst im Februar. (Auch das kann am Winter liegen, der sich dieses Jahr länger gehalten hat.) Von der Krise besonders betroffen ist die Maschinenindustrie (Auto-Zulieferer u.a.). Wie stark die Bauindustrie, in der besonders viele Immigranten arbeiten, in Bedrängnis kommt, wird sich noch zeigen. - Sozialhilfebezug als Ausweisungsgrund
Krisen haben in der Regel den Effekt, dass Leute, auch wenn sie nicht arbeitslos werden, dann doch vermehrt in Jobs mit niedrigeren Löhnen gezwungen werden. Vania Aleva und Hans Baumann haben schon für 2005 und 2006 gezeigt, dass das Lohnniveau bei den ImmigrantInnen besonders niedrig ist. Je kürzer der Aufenthalt und je unsicherer der rechtliche Status, desto niedriger die Löhne. Die Zahl der Working Poor lag 2005 bei SchweizerInnen bei 2,5 Prozent, bei ImmigrantInnen aus dem Süden der EU bei 6,5 Prozent und bei den ImmigrantInnen von ausserhalb der EU bei 15,0 Prozent. Diese Unterschiede dürften sich mit der Krise weiter verschärfen (Jahrbuch Denknetz 2007).
Die Abhängigkeit von der Sozialhilfe wegen zu geringen Einkommens oder wegen Aussteuerung aus der Arbeitslosenversicherung kann selbst für seit längerem in der Schweiz lebenden Nicht-EU-AusländerInnen zu einer Gefahr für den Aufenthaltstatus werden. Mit dem neuen AuG kann nämlich nicht nur die eigene Sozialhilfeabhängigkeit sondern sogar die Sozialhilfeabhängigkeit einer Person, für die einE AusländerIn aus einem Drittstaat unterhaltspflichtig ist, zum Widerruf der Aufenthaltsbewilligung führen. Dies könnte allenfalls sogar zur Folge haben, dass von dieser Bestimmung betroffene AusländerInnen es bewusst unterlassen, gerechtfertigte Sozialhilfeansprüche geltend zu machen, um zu vermeiden, dass in der Konsequenz ihr Aufenthaltsstatus gefährdet wird. - Unklare Auswirkungen auf die Sans-Papiers
Unklar ist, welches die Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf die illegalisierten Personen in der Schweiz sind. Denkbar sind zwei in ihrer Konsequenz entgegen gesetzte Entwicklungen. Einerseits ist spezifisch im Bereich der Care Economy ein Domino-Effekt denkbar, wenn speziell die Erwerbsrate der Frauen sinkt. Historisch zeigte sich die Erwerbsrate der Frauen elastischer als jene der Männer. Wenn man annimmt, dass trotz eines Rückgangs dieses Trends auch heute noch viele Frauen im Falle einer Entlassung im Bereich der Care Economy (Hausarbeit, Kinderbetreuung, Betreuung von Angehörigen) tätig werden, führt dies zu einer Abnahme der entsprechenden Arbeitsangebote, welche häufig von Sans-Papiers wahrgenommen werden.
Andererseits sind zum Beispiel im Bereich der Bauwirtschaft sowohl ähnliche wie entgegengesetzte Entwicklungen denkbar. Das Arbeitsvolumen im Baugewerbe wird auf jeden Fall in der Krise deutlich reduziert werden. Man kann annehmen, dass allfällig in der Hochkonjunktur beschäftigte Sans-Papiers als erste ihren Arbeitsplatz verlieren. Umgekehrt ist auch denkbar, dass unflexiblere, also legale Arbeitskräfte generell entlassen werden und bei Vorliegen von Aufträgen dann aufgrund des Preisdrucks auf Sans-Papiers als billigsten Ersatz zurückgegriffen wird.£Momentan ist der Einfluss der Krise erst im Bereich der legalen Migration insbesondere durch den Rückgang der Migration aus Osteuropa sichtbar.
V Auswirkungen auf die gesellschaftliche Debatte: wird der Rassismus stärker?
Rassistische Stimmungmache und Übergriffe sind faktisch unabhängig von realen Faktoren. So sind Fälle rassistischer Gewalt in Ostdeutschland weit häufiger als in Westdeutschland, obwohl der Ausländeranteil in Ostdeutschland wesentlich geringer ist. Auch in der Schweiz nutzen gerade die Befürworter fremdenfeindlicher Gesetze das Argument, der Ausländeranteil müsse begrenzt werden, um nicht den Rassismus zu schüren.
Umgekehrt führt aber wirtschaftliche Unsicherheit dazu, dass gerade jene Kreise, welche eine politische Diskussion um die Umverteilung ablehnen, nach Sündenböcken suchen. Hier bieten sich die AusländerInnen in der Schweiz an, auch wenn sie in Wahrheit selbst überproportional zu Opfern der Krise werden, wie oben gezeigt wurde. Parallel dazu verlieren in einer Krise antirassistische Argumentationen wesentlich an Durchschlagskraft, welche MigrantInnen primär über deren Charakterisierung als «nützliche Arbeitskraft» eine grössere gesellschaftliche Akzeptanz verschaffen wollen.
DIESES DISKUSSIONSPAPIER WURDE FÜR DIE VOLLVERSAMMLUNG VON SOLIDARITÉ SANS FRONTIÈRES VOM 3.4.2009 ERSTELLT.
Erwähnte Quellen
- Alleva, Vania und Baumann, Hans, Die Migration und die Prekarisierungsfalle, in Denknetz Jahrbuch 2007, edition 8, Zürich
- Le Temps, 19.1.2009
- Der Bund, 12.1.2009