Gegenläufige Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf Migration
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Balthasar Glättli und Heiner Busch haben in ihrem Thesenpapier "Globale Krise und Migration" u.a. folgende Thesen aufgestellt:
Die Remissen der EmigrantInnen bedeuten für viele Herkunftsländer eine wirtschaftlich sehr bedeutende Einnahmequelle, die einen wichtigen Teil des Bruttoinlandproduktes ausmachen. Die Schweiz ist nach den USA und Saudia-Arabien eines der geldmässig wichtigsten Zuwanderungsländer, aus welchem Remissen in die Herkunftsländer geflossen sind. Migration aus Nicht-EU-Ländern sei "migration jetable" oder "Wegwerfmigration": Sobald sie den Zuwanderungsländern nicht mehr nützt, wird sie massiv eingeschränkt. Steigt die Arbeitslosigkeit in den Zuwanderungsländern, steigt sie bei den Nicht-EU-MigrantInnen in überdurchschnittlichem Masse, was zu deren Aufenthaltsverlust führen kann.
Wirtschaftliche Unsicherheit führt zu steigendem Rassismus, indem "Sündenbock"-Politiker sich an Ausländern schadlos halten.
Meine Gegenthese
Während die Güterproduktion und diverse industrielle Dienstleistungen schrumpfen, wächst die Nachfrage in der vor allem weiblich besetzten Care-Ökonomie - und zawr nicht nur im informellen Sektor. Die Krise trifft männlich Beschäftigte anders als weibliche. Die Arbeitslosigkeit der Männer (In- und Ausländer) nimmt stärker zu als diejenigen der Frauen (In- und Ausländerinnen). Laut Tagi-Bericht vom 25.4.09 sind in den USA über 5 Mio Jobs .(bis April 09?) verloren gegangen, 80% davon sind solche von Männern. Auch in den Schweizer Statistiken lässt sich in geschwächter Form diese Tendenz beobachten. Frauenjobs sind generell prekärer, aber auch "krisenresistenter". Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass nun die Rollen zwischen Männern und Frauen getauscht werden. Eher suchen sich Familien billige Haushaltshilfen als dass die Mehrheit der arbeitslosen Männer längerfristig zu Hausmännern werden.
Die These zum zunehmenden Rassismus und zur Abschottungspolitik bleibt unwidersprochen.
Weshalb sind Frauenjobs krisenresistenter?
Care-Arbeit - Erziehungs-, Bildungs-, Sozial- und Pflegearbeit - beruht auf zwischenmenschlicher Zuwendung und folgt einer anderen Logik als die Güterproduktion und der industrielle Dienstleistungssektor. Die Care-Arbeit wird in den offiziellen Wirtschaftsdiskursen ausgeblendet oder wie Güterprodktion behandelt.
In der Care-Ökonomie werden Leistungen erbracht, die für alle Gesellschaften und Wirtschaftssysteme lebenswichtig sind und die auch Personen zugänglich sein müssen, die nicht dafür bezahlen können. Die Care-Ökonomie zeigt auf, dass die klassische marktwirtschaftliche Vorstellung von lauter autonomen Anbietern und Abnehmern auf dem Markt, die ausschliesslich nach Kosten-Nutzen-Abwägungen entscheiden, zumindest im Care-Bereich die Realität nicht erfasst. Während ein Güterproduzent, ein Werbeprofi, ein Finanzanalyst etc. kaum je in direkten Kontakt zum Produktabnehmer treten, beruht die Care-Ökonomie auf der unmittelbaren Interaktion zwischen Leistungserbringenden und Leistungsempfangenden. Zudem: Care-Dienstleistungen beruhen in der Regel auf einem mehr oder weniger starken Abhängigkeitsverhältnis, in welchem die Care-Empfangenden existentiell auf die menschliche Zuwendung der Care-Leistenden angewiesen sind (z.B. Kinder, Kranke, Betagte). Die Anbieter und Käufer auf dem freien Markt hingegen, so die offizielle Wirtschaftstheorie, agieren als unabhängige, fei kalkulierende Individuen. Care-Leistungen auf der anderen Seite erfolgen in der Regel nicht nach gewinnmaximierenden Motiven. Der überwiegende Teil dieser Leistungen wird von Frauen erbracht, zu einem grossen Teil unbezahlt . Doch auch die bezahlten Care-Leistungen (Kinderbetreuung, Schule, Gesundheits- und Sozialbereich) sind immens und wirtschaftlich sehr bedeutend. In diesem Wirtschaftssektor - sowohl im formellen wie im informellen arbeiten besonders viele Migrantinnen. Die Nachfrage steigt rasant - auch bei denjenigen, die für die Leistungen nicht bezahlen können. Es herrscht die unveränderte Vorstellung vor, dass diese Dienstleistungen fast nichts kosten dürfen. Exemplarisch ist dies im offiziellen Diskurs zur "Kostenexplosion" im Gesundheitswesen. Nach offizieller Messung (in der die Gratis- und Schwarzarbeit nicht enthalten ist) werden in der Schweiz rund 12% des Brutto-Sozialproduktes für das Gesundheitswesen ausgegeben. Um zu sparen. werden u.a. die interaktiven Leistungen der Pflegenden zunehmend abgewertet und gekürzt. Kaum beachtet wird die Tatsache, dass sich Care-Arbeit, anders als die industrielle Güter- und Dienstleistungsproduktion, nicht unbeschränkt rationalisieren lässt. Man kann beispielsweise Kinder nicht immer schneller erziehen, während sich Industrieprodukte in immer kürzerer Zeit herstellen lassen. Dies ist der Hauptgrund, weshalb Care-Leistungen im Verhältnis zur industriellen Produktion teurer werden.
"Krisenresistenter" ist die Care-Ökonomie, weil die Nachfrage hier überlebenswichtig ist und ihre Mechanismen nicht rein marktwirtschaftlich funktionieren. Doch auch die Care-Ökonomie kostet Geld. Und dies droht ihr wegen der Krise auszugehen.
Eine Krise in der Care-Ökonomie heisst, dass Menschen, die abhängig von der Zuwendung anderer sind, diese Zuwendung nicht mehr erhalten. Diese Krise ist noch weit beängstigender und existentiell bedrohender (Beispiel: panische Angst vor dem Alter, vor dem Verlust der eigenen Autonomie). Sie trifft Gesellschaften besonders hart, deren (familiäre und kommunale) Strukturen zwischenmenschlicher Verpflichtungen bereits aufgelöst sind. Fragt sich, ob in solchen Krisensituationen neue Formen von Solidarität entstehen können. Gesellschaften mit noch bestehenden Solidaritätsbeziehungen haben da vermutlich die grösseren Überlebenschancen.
Entwicklungen im Care-Bereich
Gemäss Prognosen der UNO wird im Jahr 2050 in den reichen Ländern jeder Dritte älter als 60 sein. Die Nachfrage im Care-Bereich steigt, aber nicht die Zahlungsfähigkeit der Nachfragenden. -> Einsparungen -> Zusätzliche Belastung mit Gratisarbeit für Frauen im Care-Bereich. -> Nachfrage nach billigen Arbeiterinnen im Care-Bereich nimmt zu / mehr Sans-papiers im Care-Bereich -> Konkurrenzierung und Entsolidarisierung im Care-Bereich bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Dienstleistungen von MigratInnen /Sans-papiers (weibliche).
Arbeitslosigkeit steigt bei Männern (inkl. Migranten) stärker als bei Frauen (inkl Migrantinnen). Der Auswanderungsdruck in den armen Ländern auf Frauen nimmt zu (-> Feminisierung der Migration).
Zunahme der Betagten in den Einwanderungsländern bei gleichzeitiger Verknappung der Altersguthaben. -> Bedarf nach billigeren Arbeitskräften im Care-Sektor steigt. -> Braindrain / Kettenmigration im Care-Bereich wird grösser
Ausblick: Anstatt den Care-Bereich zu industrialisieren, müsste die Güter- und Dienstleistungsproduktion vermehrt der Logik der Care-Ökonomie folgen. Dies ist auch eine migrations- und menschenrechtspolitische Frage, in die wir uns als migrationspolitische Organisation einmischen müssen. Beispiel: Statt Agrarindustrie umweltschonende Landwirtschaftsproduktion, die auf den lokalen und regionalen Bedarf ausgerichtet ist. Statt Handelsliberalisierung (Güter und Dienstleistungen) und Finanzliberalisierung müssten sich arme Länder wieder vermehrt vor Billigimporten und unkontrollierten Geldabflüssen schützen können und für den regionalen Bedarf produzieren. Steueroasen entziehen den Migrationsherkunftsländern enorme Geldsummen, die deren Wohlfahrt und Subsistenz empfindlich schwächen.
Auswanderungsdruck
Währungszerfall, Kaufkraftverlust und Preissteigerungen in den Herkunftsländern -> Unterstützungsbedarf der Herkunftsfamilien steigt -> Auswanderungsdruck steigt -> Druck auf ImmigrantInnen, mehr Geld zu überweisen, steigt. -> Bereitschaft der ImmigrantInnen, mehr und zu schlechteren Konditionen zu arbeiten steigt.
Ein wachsender Teil der Männer (nicht nur der Unterschichtsangehörigen und der Migranten) weicht aufgrund fehlender Jobs auf den "schnellen Gelderwerb" aus.
Kettenmigration
Gemäss Bundesstatisik waren im Jahr 2007 415’000 Personen im Gesundheits- und Sozialbereich beschäftigt, davon 99'000 oder 24% AusländerInnen davon 60'000 oder 61% Frauen (Ausländerinnen) . Von den 99'000 ausländischen Angestellten stammten 68% aus den EU-27 Ländern, 32% von ausserhalb. Nur der Gesundheitsbereich: Im Jahr 2006 waren in der Schweiz von 13 erwerbstätigen Personen mindestens eine im Gesundheitsbereich entlöhnt beschäftigt (insgesammt. 330'000 Pers.), davon waren 80% Frauen und 19% AusländerInnen. In den Spitälern betrug der Anteil ausländischer Erwerbstätiger gar 34%. Noch deutlicher ist das Verhältnis in den Pflegezentren: In der Stadt Zürich liegt der Ausländeranteil des Pflegepersonals dort bei 35%, mehrheitlich Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien und an zweiter Stelle aus Deutschland . Hinzu kommt die Spitex. Statistisch nicht erfasst sind die Tausenden von Sans-papiers, die neben Hausarbeit auch Kinder- und Betagtenbetreuung zu Hause leisten.
Aufgrund einer Studie des Schweiz. Gesundheitsobservatoriums (Obsan) müsste allein in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen sowie Spitex-Diensten - trotz der oft fragwürdigen Verkürzung der Hospitalisationsdauer - bis 2020 25'000 Personen zusätzlich angestellt werden (+13%) und 60'000 pensionierte Gesundheitsfachleute wegen Pensionierung ersetzt werden (+30%). Es wird schwierig werden, den erhöhten Bedarf durch qualifiziertes Personal aus der Schweiz und aus der EU abzudecken. In der Praxis zu beobachten ist, dass die Qualifikationsanforderungen zunehmen, während die Löhne stagnieren oder sinken.
Generell herrscht in den OECD-Ländern ein grosser Mangel an PflegerInnen und immer mehr in den Südländern ausgebildete Pflegerinnen pflegen die Kranken und Betagten in den Nordländern, während in ihren Herkunftsländer grosse Lücken im Pflegebereich entstehen. Vorwiegend Frauen der Südländer befriedigen die Care-ökonomische Nachfrage der Nordländer, während in den Herkunftsländern Frauen aus noch ärmeren Ländern in die Lücke springen. So kommt es zu eigentlichen Kettenmigrationen, wobei die ärmsten Länder keinen Nachschub mehr finden. Die Kettenmigration verläuft in umgekehrter Richtung zum Lohngefälle. Untersuchungen zur Migration im Care-Sektor und im Gesundheitsbereich gibt es bis anhin bloss punktuell.
a.l., 27.5.2009