„Unrecht darf nicht Recht sein“ – unter diesem Motto beschäftigte sich am Freitag, 31. Oktober 2008, eine nationale Tagung an der Universität Fribourg mit dem Asyl- und Ausländerrecht. Dabei ging es sowohl um juristische Fragwürdigkeiten wie praktische Erfahrungen. Rund 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der ganzen Schweiz diskutierten die menschenrechtlich problematischen Aspekte der neuen Gesetze und dokumentierten die gravierenden Konsequenzen einer rigiden Umsetzungspraxis, die im gegenwärtigen politischen Klima kaum je zugunsten der Asyl suchenden Menschen erfolgt.
Unzumutbare Zustände in Empfangsstellen. Stossende Rechtsauslegung bei Asylgesuchen. Verletzung elementarer Menschenrechte – das sind einige der Befunde von Expertinnen und Betroffenen.
Professor Adriano Previtali (Universität Fribourg) zeigte, dass die Nichteintretensgründe im Asylgesetz sowie die Nothilfe gegen menschenrechtliche Grundsätze verstossen. Die Nothilfe, deren erklärtes Ziel darin besteht, die davon Betroffen zur Ausreise aus der Schweiz zu bewegen, widerspricht der Bundesverfassung, die allen Menschen in der Schweiz ein „menschenwürdiges Dasein“ garantieren soll. Sowohl Kantone, Gemeinden wie Gerichte könnten und sollten, nach Previtali, über das gesetzlich vorgeschriebene Minimum hinausgehen. Giusep Nay, alt Bundesgerichtspräsident, erläuterte, wie die explizit fehlende Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene in der Schweiz auch im Asylwesen zu zunehmender Rechtsungleichheit und unhaltbaren Zuständen führt. Eine Verstärkung der juristischen Aufsicht könnte gerade den Schutz der Ärmsten in unserer Gesellschaft verstärken. Maja Wicki-Vogt (asylon Zürich) und ex-Nationalrätin Ruth-Gaby Vermot-Mangold skizzierten die aktuellen politischen Bedingungen und ihre Auswirkungen für die Solidaritätsarbeit, während Boël Sambuc (Schweizerische Beobachtungsstelle für Ausländer- und Asylrecht) und Françoise Kopf (SOS Racisme) die konkrete Arbeit ihrer Organisationen vorstellten und dabei die täglichen Schwierigkeiten angesichts restriktiver Gesetzesauslegungen und Behördenwillkür illustrierten.
In sechs Arbeitsgruppen wurden zahlreiche Missstände, Diskriminierungen und juristische Absurditäten dokumentiert. Dabei zeigte sich eine deutlich liberalere und aufgeschlossenere Haltung in den welschen Kantonen. Marc Spescha (asylon Zürich) sprach deshalb den Wunsch aus, dass der Wärmestrom aus der Welschschweiz in die Deutschschweiz ströme, und nicht umgekehrt der deutschschweizerische Kältestrom in die Welschschweiz.
Eine abschliessende Resolution forderte die verantwortlichen Behörden zu schnellem Handeln auf und machte konkrete Vorschläge: Regularisierung von Sans papiers, Abschaffung der Nothilfe, grosszügigere Beurteilung der Asylgesuche, Verhinderung der Diskriminierung von Kindern, keine Vereitelung von Eheschliessungen sowie Beseitigung stossendster Rechtsungleichheiten.
Die Tagung wurde ausgerichtet vom „Institut interdisciplinaire d’éthique et des droits de l’homme“ der Universität Fribourg unter organisatorischer Mitwirkung der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl und Ausländerrecht (Bern), Plattform asylon (Zürich) und Demokratische JuristInnen der Schweiz.
Resolution zum Asyl- und Ausländergesetz
Die neuen Bestimmungen des Asylgesetzes sowie das neue Ausländergesetz haben die Rechtsstellung von Asylsuchenden sowie von Immigrantinnen und Immigranten in der Schweiz prekärer gemacht. Die neuen Gesetzesbestimmungen wirken sich mit erheblichen kantonalen Unterschieden in vielfachen Verschärfungen aus.
Obwohl beide Gesetze Normen enthalten, die einen humanen Umgang mit Asylsuchenden sowie Immigrantinnen und Immigranten gewährleisten sollen, bleibt das Instrumentarium zur humanen Umsetzung der Gesetze weitgehend ungenutzt.
Bereits sind parlamentarische Vorstösse zur weiteren Verschlechterung der Rechtsstellung von Menschen ohne Schweizer Pass eingereicht worden. Die hängigen verfassungs- und menschenrechtswidrigen Volksinitiativen (Minarettverbotsinitiative, Ausschaffungsinitiative) sind nur die extremen Spitzen eines Eisberges, der Asylsuchenden sowie Immigrantinnen und Immigranten mit Härte und Kälte begegnet. Das Drehen an der Verschärfungsspirale beraubt immer mehr Menschen in unerträglicher Weise ihrer Würde und verletzt ihre elementaren Rechte.
Die vorherrschenden Tendenzen sind nicht akzeptabel und mit dem Selbstverständnis der Schweiz als rechtsstaatliche Demokratie mit humanitärem Anspruch nicht vereinbar. Es muss dringlich gehandelt werden.
Die versammelten Teilnehmerinnen und Teilnehmer appellieren an Parlament und Bundesrat, aber auch an kantonale Behörden und an die Justiz, menschenrechtskonforme, ethische Lösungen im Asylverfahren und im Ausländerrecht zu respektieren bzw. eine entsprechende gesetzliche Anwendungspraxis sicherzustellen.
Besonders dringlich sind folgende Punkte:
- Die Tatsache, dass die Härtefallbestimmungen im Asyl- und Ausländergesetz für abgewiesene Asylsuchende und Sans papiers weitgehend unbeachtet bleiben, widerspricht in krasser Weise dem gesetzlichen Bekenntnis zum Prinzip der Humanität sowie den Intentionen des Gesetzgebers. Bundesrat und Kantone werden deshalb aufgefordert, Immigrantinnen und Immigranten, die sich während vier bis fünf Jahren in der Schweiz aufhalten, zu regularisieren. Besonders dringlich ist dies bei Jugendlichen, die in der Schweiz die Volksschule beendet haben. In allen Kantonen ist der Rechtsweg für alle zu öffnen. Zur Beurteilung von Härtefällen sind unabhängige kantonale Härtefallkommissionen mit Entscheidungskompetenz einzurichten.
- Auch für Sans papiers ist ein freier Zugang zu qualifizierter unabhängiger medizinischer Versorgung sicherzustellen. Der besonderen Verletzlichkeit von Kindern und Jugendlichen ist Rechnung zu tragen.
- Die „entschuldbaren Gründe“ bei Asylsuchenden ohne gültige Papiere sind von der Rechtspraxis extensiv auszulegen, bzw. der Nichteintretensentscheid ist bei fehlenden Papieren restriktiv einzusetzen.
- Auch Asylsuchenden, die auf dem Flugweg einreisen, ist im Regelfall der Zugang zum ordentlichen Asylverfahren zu öffnen. Vorbehalten bleibt die Abweisung bei offensichtlich unbegründeten Gesuchen. Ein Aufenthalt von über 20 Tagen im Transitbereich ist auf jeden Fall unzumutbar. Rechtsvertretung und Rechtsberatung sind im Flughafenverfahren von Amtes wegen sicherzustellen, insbesondere erhalten minderjährige Jugendliche eine anwaltschaftliche Vertretung.
- Der Sozialhilfeausschluss und die entwürdigende Nothilfepraxis gegenüber Asylsuchenden mit Nichteintretensentscheid oder abgewiesenem Asylgesuch sind unverzüglich einzustellen. Mit diesem gesetzlichen Instrument wird die Menschenwürde missachtet und das beabsichtigte Ziel nicht erreicht. Die Menschen tauchen unter, reisen aber nicht aus, da sie in ihrer Heimat nicht leben können.
- In Übereinstimmung mit Art. 7 der UNO-Kinderrechts-Konvention sind Kinder unverzüglich nach ihrer Geburt auch dann zu registrieren, wenn die Identität der Eltern nicht durch Dokumente eindeutig nachgewiesen werden kann.
- Die Vereitelung der Eheschliessung von abgewiesenen Asylsuchenden und Sans papiers verstösst gegen das Recht auf Ehe gemäss Bundesverfassung und Europäische Menschenrechtskonvention. Die parlamentarische Initiative Brunner „Scheinehen unterbinden“ ist daher abzuweisen, weil sie eine unzulässige gesetzliche Vermutung aufstellt und die Eheschliessung einer bestimmten Ausländerkategorie pauschal verwehrt.
- Die faktische Wegweisung von Kindern mit schweizerischer Staatsangehörigkeit ist unverzüglich zu unterbinden, indem ausländischen Elternteilen eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wird, damit sie die Betreuung ihrer Kinder und den Kontakt mit ihnen in der Schweiz pflegen können. Eine entsprechende Regelung ist auch unerlässlich zur Vermeidung einer Inländerdiskriminierung, da Kinder mit EU-Staatsangehörigkeit aus Freizügigkeitsrecht ihren Eltern ein Aufenthaltsrecht verschaffen. Die parlamentarische Initiative Tschümperlin „Beseitigung und Verhinderung von Inländerdiskriminierung“ ist im Parlament dringlich gutzuheissen.
Freiburg/Fribourg, 31. Oktober 2008
Notes en français
Des notes en français d'une participante du colloque à Fribourg sont disponible sur demande chez le secrétariat de Solidarité sans frontières.