Von Heiner Busch
Seinen 33. Geburtstag verbrachte Mesut Tunç am Montag im Gefängnis im österreichischen Wels. Über die Feiertage hatte er zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern Verwandte in Wien besucht. Auf der Rückreise am 3. Januar holten ihn Zivilpolizisten aus dem Nachtzug. Grund dafür war ein via Interpol verbreiteter Haftbefehl aus der Türkei. Tunç ist damit mindestens der vierte in der Schweiz anerkannte türkische bzw. kurdische Flüchtling in diesem Jahrzehnt, der bei einer Reise ins Ausland in die Falle eines Auslieferungsersuchens aus der «Heimat» tritt.
Geht es nach den türkischen Behörden, dann soll der Mann eine «Reststrafe» von 23 Jahren und vier Tagen absitzen, was bei seinem ohnehin labilen Gesundheitszustand eine Todesstrafe auf Raten bedeuten würde. Tunçs österreichischer Rechtsanwalt Christian Kras hat Beschwerde gegen die Auslieferungshaft erhoben. Und sein Zürcher Kollege Marcel Bosonnet hat Bundesrätin Calmy Rey in einem Brief aufgefordert, sich für die umgehende Freilassung des Flüchtlings einzusetzen
Mesut Tunç war 1995 von einem Militärgericht zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Danach soll er 1994, also im Alter von siebzehn Jahren, «als Mitglied der terroristischen Vereinigung DHKP-C» an zwei «bewaffneten Angriffen» teilgenommen haben, bei denen sieben Personen getötet worden seien. Wie Rechtsanwalt Kras, hervorhebt, stützte sich das Urteil auf ein Geständnis, das sein Mandant seinerzeit mit verbundenen Augen unterschreiben musste. Vorausgegangen waren schwere Folterungen unter anderem durch Elektroschocks.
Asyl in der Schweiz
2002 beteiligte sich Tunç an einem kollektiven Hungerstreik politischer Gefangener gegen die Einführung neuer Hochsicherheitsgefängnisse des so genannten F-Typus. Nur dank einer breiten öffentlichen Kampagne liessen ihn die türkischen Behörden zusammen mit einer Gruppe von gesundheitlich schwer angeschlagenen Gefangenen provisorisch frei, damit sie medizinisch betreut werden konnten. Tunç nutzte diese Haftpause, um nach Deutschland zu fliehen, wo bereits seine Eltern lebten. 2006 erhielt er zunächst dort Asyl, 2008 dann auch in der Schweiz, wohin er nach seiner Heirat umgezogen war. Seine Frau hat hier ebenfalls Asyl.
Tunçs Auslieferung in die Türkei wäre ein Verstoss gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, hält Rechtsanwalt Kras in seiner Haftbeschwerde fest. Sie verbiete sich schon deshalb, weil «das türkische Militärtribunal nicht mit den Garantien eines ordentlichen und fairen Verfahrens ausgestattet ist. In zahlreichen Urteilen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg die Militärtribunale oder Staatssicherheitsgerichte als parteiisch qualifiziert.» Und Marcel Bosonnet ergänzt: «Tunç leidet am Wernicke-Korsakoff-Syndrom. Das ist eine hirnorganische Schädigung, die vor allem bei Leuten auftritt, die an Hungerstreiks teilgenommen haben. Auch hier hat der Strassburger Gerichtshof eindeutig klargelegt, dass die von dieser Krankheit Betroffenen auf keinen Fall ausgeliefert werden dürfen.»
Von alledem zeigt sich das Bundesamt für Justiz (BJ) unbeeindruckt. Der türkische Haftbefehl hat dem BJ seit dem 19. Juni 2008 vorgelegen. Das Amt hielt es nicht für nötig, Tunç konkret vor der Gefahr zu warnen, denn das Fahndungsersuchen sei «nicht missbräuchlich gewesen», so BJ-Sprecher Folco Galli. Als missbräuchlich gelten dem Amt nur solche Ersuchen, die sich auf politische Straftatbestände beziehen oder bei denen «gemeinrechtliche Strafvorwürfe vorgeschoben werden, um eine politische oder rassische Verfolgung zu verbergen.» Das sei hier nicht der Fall. Und ausserdem sei Tunç im Asylentscheid «in generell abstrakter Weise» gewarnt worden. Dort heisst es nämlich standardmässig, dass «die Anerkennung als Flüchtling lediglich für die Schweiz gilt. Unser Land verfügt nur über sehr beschränkte Einwirkungsmöglichkeiten, sollten Sie im Ausland im rahmen eines Straf- bzw. auslieferungsverfahrens behördlichen Massnahmen ausgesetzt sein.» Der Kommentar des BJ-Sprechers: «Wenn Tunç trotzdem ins Ausland reist, ist das seine Verantwortung»
Bosonnet hält dieses Argument für unsinnig. Der Haftbefehl sei sehr wohl missbräuchlich: «Schliesslich bezieht er sich auf den Vorwurf der terroristischen Vereinigung, ein typisches politisches Delikt. Und ausserdem hat Tunç gerade wegen dieser willkürlichen und menschenrechtswidrigen Verfolgung in der Schweiz Asyl erhalten.»
Der Standardsatz, mit dem sich das BJ die Hände in Unschuld wäscht, ist seit 2001 in allen positiven Asylentscheiden enthalten. Im Jahr zuvor hatte der Fall Naci Öztürk für erhebliches Aufsehen gesorgt. Öztürk, ebenfalls anerkannter Flüchtling aus der Türkei und zu diesem Zeitpunkt bereits in der Schweiz eingebürgert, war auf einer Urlaubsreise in Slowenien ebenfalls wegen eines türkischen Interpol-Haftbefehls verhaftet worden, und musste zwei Monate warten, bis das zuständige Gericht die Auslieferung ablehnte. Schon damals stellte sich das BJ auf den Standpunkt, dass der Interpol-Nachrichtenverkehr vertraulich sei und eine Benachrichtigung der Betroffenen nicht in Frage käme. Demselben Muster folgten die Verhaftungen von Hüsseyin Sevinç im Herbst 2003 und von Dursun Güner im Juni 2006, beide in Deutschland. Konkret gewarnt hat das BJ laut Galli seit 2001 «vielleicht zwei oder drei Personen. Das betraf aber sicherlich keine türkischen Fahndungsersuchen.»
«Reisen ohne Risiko»
Mit einem parlamentarischen Vorstoss will der Nationalrat Daniel Vischer (Grüne) jetzt diese unsägliche Praxis beenden. Wenn das BJ schon die Betroffenen nicht konkret warnen wolle, dann müsse es auf andere Weise gewährleisten, dass Flüchtlinge ihre Verwandten und Freunde im Ausland ohne Risiko der Verhaftung besuchen können. Das Amt solle deshalb allen Betroffenen unbürokratisch auf Anfrage bekannt geben, wenn gegen sie keine Haftbefehle im Umlauf seien. Zum andern fordert Vischer den Bundesrat auf, in den Gremien der Schengen-Kooperation aktiv zu werden. «Die Mitgliedstaaten der EU sowie die assoziierten Schengen-Staaten sollen gegenseitig ihre positiven Asylentscheide anerkennen und damit die Betroffenen vor Auslieferungs- und Fahndungsersuchen der Behörden ihrer Herkunftsstaaten schützen. Wenn wir schon mit Schengen kooperieren, dann nicht nur zum Nachteil des Asylrechts.»