Die Motion 25.3428 verlangt, dass Landesverweisungen künftig auch im Strafbefehlsverfahren ausgesprochen werden können. Gemäss der Motion würden die Rechte der Beschuldigten gewahrt bleiben, da den Betroffenen weiterhin die Möglichkeit der unbegründeten Einsprache innerhalb von zehn Tagen gemässe Art. 354 StPO zur Verfügung stünde, um das ordentliche Verfahren in Gang zu setzen. Auch die notwendige Verteidigung gemäss Art. 130 Bst. b StPO sei gewährleistet. Was auf den ersten Blick wie eine Vereinfachung erscheint, wirft bei näherer Betrachtung erhebliche rechtsstaatliche Probleme auf.
Der Strafbefehl und das Recht auf ein faires Verfahren
Das Strafbefehlsverfahren ist heute das mit Abstand häufigste Strafverfahren in der Schweiz. Es ermöglicht eine Verurteilung ohne Gerichtsverhandlung, sofern die beschuldigte Person nicht innerhalb von zehn Tagen Einspruch einlegt. Diese Zeitspanne ist sehr kurz und wirft an sich bereits rechtsstaatliche Bedenken auf. In zehn Prozent aller Strafbefehlsverfahren gilt der Strafbefehl zudem als zugestellt, obwohl die betroffene Person nie davon Kenntnis erlangt hat (Heimliche Verurteilungen, Empirische Erkenntnisse und konventionsrechtliche Bedenken zur fiktiven Zustellung von Strafbefehlen, ZStrR 2021, 253 ff.).
Mit dem Strafbefehlsverfahren wird faktisch ein „Opt-in“-Modell etabliert. Nur wer aktiv reagiert, erhält ein gerichtliches Verfahren. Wer untätig bleibt – sei es aus Unkenntnis, aufgrund von Sprachbarrieren, Analphabetismus oder aus Angst vor Kosten – verliert diese Möglichkeit. Gerade bei den von der Motion betroffenen Personen sind diese Barrieren jedoch besonders hoch. Es ist daher davon auszugehen, dass in den meisten Fällen kein Einspruch gegen den Strafbefehl eingelegt würde.
Bereits jetzt bestehen Zweifel, ob das Strafbefehlsverfahren mit den Garantien von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) vereinbar ist. Die Übertragung einer so gravierenden Sanktion wie der Landesverweisung in dieses Verfahren würde die bestehenden Spannungen weiter verschärfen.
Hinzu kommt, dass Strafbefehle oft nur rudimentär begründet sind und im Regelfall keine persönliche Anhörung stattfindet. Ein differenzierter Blick auf persönliche Umstände und das Abwägen von Interessen, die für eine Landesverweisung zwingend sind, ist in diesem Rahmen kaum möglich.
Ein zentrales rechtsstaatliches Problem liegt zudem in der fehlenden richterlichen Prüfung. Während bei der Anordnung einer Landesverweisung das zuständige Gericht die Verhältnismässigkeit abwägen und Vollzugshindernisse berücksichtigen muss, würde im Strafbefehlsverfahren die Staatsanwaltschaft darüber entscheiden. Das Risiko von Fehlentscheidungen wäre hoch, während eine gerichtliche Kontrolle häufig ausbliebe.
Eine Landesverweisung ist ein einschneidender Entscheid
Die Landesverweisung ist keine Bagatellmassnahme. Sie bedeutet den Verlust des Aufenthaltsrechts, greift unmittelbar in das Privat- und Familienleben ein und ist in der Praxis oft einschneidender als die zugrunde liegende Strafe. Da sie überwiegend Strafcharakter aufweist, muss sie strengen rechtsstaatlichen Anforderungen genügen.
In der Botschaft des Bundesrats zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative wurde bereits betont, dass Landesverweisungen wegen ihrer Schwere nur unter Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips und nach einer Einzelfallprüfung zulässig sind. Es wäre daher fahrlässig, einen solchen Entscheid im Schnellverfahren durch die Staatsanwaltschaft zu treffen, ohne dass die betroffene Person gerichtlich angehört wird.
Die Gefahr der Statuslosigkeit
Ein weiterer Aspekt betrifft die Nichtvollziehbarkeit von Landesverweisungen. Wie Julia Bischofberger, Vorstandsmitglied der SBAA, aufgezeigt hat, führt die Rechtskraft einer Landesverweisung unmittelbar zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts, selbst wenn die Wegweisung rechtlich oder tatsächlich gar nicht vollzogen werden kann (Nicht vollziehbare Landesverweisungen – Problemlage und Lösungsvorschläge, ZStrR 2024, S. 229 ff.). Betroffene Personen werden dadurch zu „Sans-Papiers“ und verbleiben oft über Jahre in völliger Statuslosigkeit.
In der Botschaft des Bundesrats zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative war zwar vorgesehen, dass Vollzugshindernisse wie das Non-Refoulement-Gebot oder die praktische Unmöglichkeit berücksichtigt werden müssen. Ein Mechanismus, mit dem Betroffene aus der Statuslosigkeit befreit werden könnten, wenn die rechtlichen oder tatsächlichen Wegweisungsvollzugshindernisse andauern, fehlt jedoch.
Würde die Landesverweisung künftig im Strafbefehlsverfahren angeordnet, bestünde die Gefahr, dass noch mehr Personen ohne eingehende Prüfung ihrer persönlichen Situation in diese ausweglose Lage geraten. Damit wären sowohl das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens (Art.13 Abs. 1 BV, Art. 8 EMRK) als auch der verfassungsrechtliche Verhältnismässigkeitsgrundsatz (Art. 36 Abs. 3 BV) tangiert. Die Unmöglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe würde aller Wahrscheinlichkeit nach zu mehr statt weniger Kriminalität führen und die Gerichte – entgegen den Ambitionen der Motion – zusätzlich belasten.
Fazit
Aus rechtsstaatlicher Sicht ist die Motion 25.3428 höchst problematisch. Sie würde eine der einschneidendsten Sanktionen des Strafrechts, die Landesverweisung, in ein Verfahren verlagern, das auf Geschwindigkeit und Vereinfachung ausgelegt ist, nicht aber auf eine sorgfältige Abwägung individueller Umstände. Dadurch würde die Gefahr von EMRK-widrigen Entscheiden und von irreversibler Statuslosigkeit erheblich steigen.
Die in der Motion angeführten Vorteile – Entlastung der Justiz und Vermeidung des Verzichts auf Landesverweisungen aus prozessökonomischen Gründen – überzeugen nicht. Effizienzüberlegungen dürfen bei fundamentalen Grundrechtseingriffen nicht ausschlaggebend sein. Die Einzelfallprüfung durch ein Gericht ist keine überflüssige Belastung, sondern ein unverzichtbares rechtsstaatliches Erfordernis.
Die Einsprachemöglichkeit nach Art. 354 StPO bietet keinen wirksamen Schutz. Sie setzt aktives Handeln innerhalb kurzer Frist voraus und überfordert gerade jene Betroffenen, die häufig mit Sprachbarrieren, Analphabetismus oder fehlenden Rechtskenntnissen konfrontiert sind. Durch das System des „Opting-in” wird eine existenzielle Sanktion ohne gerichtliche Prüfung rechtskräftig.
Schliesslich greift auch das Argument der notwendigen Verteidigung gemäss Art. 130 lit. b StPO nicht. Denn dieser Anspruch entsteht erst im gerichtlichen Verfahren, nicht jedoch im vorgelagerten Strafbefehlsverfahren, in dem die Entscheidung über die Landesverweisung getroffen würde.
Das Strafbefehlsverfahren geht mit erheblichen Einbussen rechtsstaatlicher Garantien einher, die vor staatlicher Willkür schützen sollen. Es ist deshalb für Landesverweisungen gänzlich ungeeignet. Eine Ausweitung dieses Verfahrens würde rechtsstaatliche Standards insgesamt untergraben und bestehende Probleme verschärfen, statt sie zu lösen. Die SBAA empfiehlt dem Nationalrat daher nachdrücklich, den Antrag abzulehnen.
Weiterführende Literatur: