Jonathan Pärli: Die andere Schweiz. Asyl und Aktivismus 1973-2000. Konstanz University Press, 2024.
Pärli beginnt sein Buch mit Betrachtungen Hannah Arendts über ihre eigene Flucht vor den Nazis, die ihr das Recht, Rechte zu haben, genommen habe. Dann entwickelt er die Geschichte der Asylbewegung in der Schweiz auf der Matrix des Geschichtsphilosophen Jacques Rancière: «Indem sie sich in unmöglicher Weise mit den unerwünschten ‹Fremden› identifizierten, markierten die asylengagierten Schweizerinnen und Schweizer eine Differenz zum allgemeinen Asyldiskurs».
Ausgehend von dieser These zeigt er auf, wie 1973 die Freiplatzaktion für Chile-Flüchtlinge entstand und – sehr zum Unwillen des Bundesrats und der bürgerlichen Mehrheit im Parlament – zwischen 2000 und 2500 Geflüchtete aus Chile in der Schweiz unterbrachte. Waren in den früheren Jahrzehnten in der Schweiz nur Geflüchtete vor dem Kommunismus willkommen, kamen nun vornehmlich linke Aktivist:innen, die sich vor einem rechten Militärputsch in Sicherheit bringen mussten. Ende der 1970er Jahre sei die Bewegung erneut gefordert worden, so der Autor. Einerseits stieg die Zahl der Asylgesuche, die von türkischen Kurd:innen, Tamil:innen und Zairer:innen gestellt wurden. Andererseits erliessen die Behörden 1979 das erste Asylgesetz, das 1981 in Kraft trat. In den 1980er-Jahren habe die Bewegung dann vor allem herausfinden und sichtbar machen müssen, wie der Staat und die involvierten Hilfswerke auf die Geflüchteten reagierten. Nach dem Inkrafttreten des Asylgesetzes habe die Bewegung den Schwerpunkt zunehmend auf das korrekte Einhalten des Gesetzes gegenüber den Geflüchteten, ja auf das «Recht» und die «Rechtsstaatlichkeit» gelegt. Die offizielle Schweiz sei nämlich damals – wegen brutaler Ausschaffungen vor rechtskräftigen Asylentscheiden und misslichen Lebensbedingungen in den «Lagern» – unter den Verdacht geraten, es mit dem Asylrecht nicht so genau zu nehmen. Trotz diesem Focus auf die Rechtsstaatlichkeit habe die Asylbewegung dennoch ständig rechtskräftige Wegweisungsentscheide in Frage gestellt und sei bereit gewesen, dafür das Recht zu brechen, um Geflüchtete vor der Ausschaffung zu bewahren. Obwohl deshalb Teile der Bewegung kriminalisiert wurden, gab es aber auch spektakuläre Freisprüche wegen «Notstandshilfe». Vor diesem Hintergrund habe die Asylbewegung bei der dritten Asylgesetzrevision von 1990 erreicht, dass eine Mitte-Links-Koalition im Asylrecht die Gewaltentrennung einführte. Dadurch wurde erstmals eine gerichtliche Überprüfung von Asylentscheiden der Exekutive möglich, was Pärli als grossen Erfolg wertet.
Allerdings führte dies wiederum zu einer zunehmenden Wichtigkeit des Migrationsrechts. Diese zunehmende Verrechtlichung führte einerseits zur Beschränkung des «freien Ermessens», sprich der Willkür der Behördenpraxis, zu einem «gesetzmässigen Ermessen», was diese berechenbarer machte. Anderseits wurden ständig neue inhaltliche Verschärfungen in Gesetze gegossen, was zur zunehmenden Entrechtung der Asylsuchenden führte, die bis heute anhält.
Gleichzeitig, so Pärli, habe die Bewegung ständig damit zu kämpfen gehabt, «dass von der rechtsextremen Nationalen Aktion über die Behörden bis in die Sozialdemokratie» «davon die Rede war, dass das Volk empfindlich auf die ‹neuen Flüchtlinge› reagiere». Dies könne als weitere «neue Form des Rassismus», «der ohne expliziten Rassenbegriff auskommt», verstanden werden. Auch dieser Aspekt ist bis heute in der Bewegung ein ständiges Thema.
Bis in die 1990er-Jahre ergriffen die Aktivist:innen mehrmals das Referendum gegen neue Verschärfungen der Migrationsgesetze – Stichworte sind dabei das Verfahren 88, die Einführung der Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht und das Drei-Kreise-Modell. Weil keine der provozierten Abstimmungen erfolgreich war, kam es in der Bewegung zwar zu Kontroversen. Pärli hält dazu aber fest, dass sich die jeweilige Befürchtung der Referendumsgegner:innen, wonach sich Rechtsextreme im Abstimmungkampf profilieren könnten, kaum je eingetroffen sei. Vielmehr habe die Bewegung jeweils neuen Zulauf und Dynamik erlebt, aber auch eine gewisse Institutionalisierung, hin zu stabileren Organisationsstrukturen «auf tiefem Niveau».
Rückblickend wertet Pärli die Berner Kirchenasyle von 1986/87 und 1993/94 als typische Erfolgsgeschichten der Asylbewegung, weil sie de facto für viele Tamili:innen und Kosovar:innen zu einem Bleiberecht geführt hätten. Im selben Zeitabschnitt gab es in der Schweiz aber auch äusserst brutale rechtsextreme und rassistische Gewaltexzesse mit mehreren Todesopfern und die «neue SVP» erlebte einen steilen Aufstieg. Obwohl sich die Asylbewegung stark mit diesen Entwicklungen auseinandergesetzt habe, sei es nicht zu einem markanten Zulauf gekommen.
Hinzu kam seit den 1980er-Jahren die stetige Vergemeinschaftung des europäischen Migrationsrechts (Schengen/Dublin-System), welche die Bewegung zunehmend gefordert habe. Es sei ihr zwar gelungen, die Pläne der EG öffentlich zu kritisieren und sich international zu vernetzen; gescheitert seien jedoch bis zum Ende des Jahrhunderts gemeinsame, effektive internationale Protestaktionen. Erst Mitte der Nullerjahre habe die Bewegung einen neuen Aufschwung erlebt, als Blocher in den Bundesrat gewählt wurde und die Schweiz den Abkommen von Schengen und Dublin beitrat.
Über den ganzen Zeitraum seiner Beobachtung sieht Pärli, dass sich die Asylbewegung immer wieder mithilfe der «Ausweitungsthese» gestärkt habe. Damit meint er die Strategie, das Schicksal der Geflüchteten mit dem eigenen Schicksal der «anderen Schweiz» zu verbinden: Wenn z.B. der Staat Haftplätze für Geflüchtete bereitstellt, können diese auch für die Haft von Aktivist:innen dienen. So werden Anliegen von Geflüchteten zu Anliegen der bewegten Schweizer:innen und Schweizer.
Am Ende zieht Pärli ein bedenkenswertes Fazit: Die «Dialektik des Dissens» der Bewegung führt seiner Darstellung nach letztlich häufig zu Erfolgen, obwohl die Asylbewegung an sich eine Art «verlorene Sache» im Sinne der Theoretikerin Lida Maxwell sei. So kann es nicht erstaunen, dass die Geschichte der Asylbewegung in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werde. Umso mehr lohnt sich die Lektüre dieser spannenden und leicht zu lesenden Dissertation. Mehr als fünf Jahre recherchierte Pärli dafür in Archiven und führte zahlreiche Gespräche mit Aktivist:innen der Bewegung, die nicht selten selbst historisches Material und bisher unveröffentlichte Texte für seine Forschung bereitstellten.
Eine PDF des Buches ist unter folgendem Link frei verfügbar: https://www.wallstein-verlag.de/openaccess/9783835391796-oa.pdf