Die Wintersession des Parlaments im Rückblick

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Dessins d'arc-en-ciels gris. L'un d'entre eux est rose fluo

Die neu gewählten National- und Ständerate hatten in der Wintersession zahlreiche Vorstösse zu migrationspolitischen Themen zu behandeln. Wir dokumentieren diese vollständig und kommentieren sie je separat. Diese erste Session der Legislatur zeigt wichtige Tendenzen. Als Fazit wird deutlich, dass die Mitte immer wieder als Mehrheitsbeschafferin wirkt. Unter dem Strich werden nicht mehr alle migrationspolitischen Vorstösse der SVP und FDP angenommen. Mitte-Links lehnt die extremsten davon ab. Aber auch die meisten Gesetzesprojekte von SP und den Grünen haben es nicht leichter, seit das neu gewählte Parlament tagt.

 

Anfangs der Wintersession sagte der Nationalrat Ja zu weiteren 300 Millionen für den «Schutz» der EU-Aussengrenzen

Die SVP fand den Antrag eine Geldverschleuderung «Jenseits von Gut und Böse». Die Schweiz solle mit diesem Geld ihre Grenzen besser selber schützen. Demgegenüber waren FDP und Mitte mit Verweis auf den vermeintlichen Schutz der Schweiz vor organisierter Kriminalität, Terrorismus und irregulärer Migration dafür. Auch weil die Schweiz von Dublin-Rückführungen unter dem Strich profitiere. Die SP befürwortete den zusätzlichen Schutz der EU-Aussengrenzen, aber nur wenn die Gelder menschenrechtskonform, sachgerecht und korruptionsfrei eingesetzt würden. Und nur die Grünen stellten zur Bedingung, dass die Zahlungen an flankierende Massnahmen geknüpft würden (etwa mehr Transparenz, eine Rechenschaftspflicht, Achtung der Menschenrechte an den Grenzen, Ausbildung der Grenzschutzbehörden in Sachen Menschenrechtskompetenz, Unterstützung von Such- und Rettungseinsätzen). Insgesamt war von Links keine grundsätzliche Kritik am Schengen/Dublin-System zu hören, obwohl dessen Scheitern seit Jahren auf der Hand liegt. Das System baut einerseits auf Gewalt an den EU-Aussengrenzen gegen Geflüchtete ohne jedoch sichere Fluchtwege offen zu halten. Andererseits erlaubt es den Mitgliedstaaten die Zuwanderung von möglichst vielen Arbeitnehmer:innen aus Drittstaaten.

 

In der Budgetdebatte der Wintersession hat das Parlament den Voranschlag des Bundesrats für 2024 betreffend das Asylwesen pauschal um 30 Millionen auf knapp 1,1 Milliarden Franken gekürzt. Dies entgegen dem Antrag der SVP, der eine Kürzung auf 900 Millionen vorsah.

Die SP kritisierte diese Kürzung im Nationalrat als reine Symbolpolitik und hat damit recht: Ob im Asylwesen gespart werden kann, hängt in erster Linie von der Anzahl der im Jahr 2024 gestellten Asylgesuche ab. Die Kürzung betrifft in der Praxis sehr wahrscheinlich vor allem Integrationshilfen, die für Asylberechtigte und vorläufig Aufgenommene bestimmt sind, kaum aber Bundesbeiträge an Ausschaffungsgefängnisse. In der gleichen Sitzung hat der Nationalrat auch einen Kredit von 20 Millionen für 2024 für das palästinensische Hilfswerk der UNO, die UNWRA abgelehnt. Nur weil der Ständerat diese Kürzung nicht mittragen wollte, kam es schliesslich zu einer Kürzung auf «nur» 10 Millionen. Damit widersprechen die Abschottungsfreunde ihrem gängigen Argument, wonach die Zuwanderung vor allem mittels Hilfe vor Ort geschmälert werde, gleich selbst. Steigen die Asylzahlen weiterhin, was mit Blick auf die menschengemachten Krisenherde wahrscheinlich ist, muss das sparwillige Parlament wohl oder über Nachtragskredite bewilligen.

 

Auf dem Weg einer ausserordentlichen Session wollte die SVP die neue Asylpraxis des SEM für Afghaninnen kippen. Ihr Plan ist vorläufig gescheitert

Das Staatssekretariat für Migration hat Mitte Juli 2023 für Frauen und Mädchen aus Afghanistan eine neue Praxis entwickelt. Sie beruft sich dabei auf die neue Praxis in mehreren EU-Staaten und auf eine Analyse der Europäischen Asylagentur. Neu betrachtet das SEM weibliche Asylsuchende aus Afghanistan sowohl als Opfer diskriminierender Gesetzgebung als auch einer religiös motivierten Verfolgung– wenn nicht ohnehin andere flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmotive zum Tragen kommen. Deshalb werden sie als Flüchtlinge anerkannt und ihnen die Familienvereinigung erlaubt. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts stützt diese neue Praxis. 
Obwohl die Anzahl der Begünstigten in der Schweiz im Vergleich zu den neuen Asylzahlen marginal ist, wurde die neue Praxis zum Steilpass für notorische Asylgegner im Wahlkampf. Es war ein unwürdiges Bild: Die neue Praxis wurde von SVP und FDP zum Thema einer ausserordentlichen Asylsession, die am 19.12.23 ebenso schnell begann, wie sie aufhörte. Ein Ordnungsantrag von Gerhard Pfister, der das Geschäft aus formalen Gründen an die ständerätliche Kommission zurückweisen wollte, wurde deutlich angenommen. Auch der Ständerat folgte am nächsten Tag und stellte das Geschäft zurück.

 

Der Nationalrat will ausländische Opfer von häuslicher Gewalt besser vor dem Verlust des Aufenthaltsrechts schützen

In der Wintersession hat der Nationalrat den Entwurf seiner staatspolitischen Kommission (SPK-N) gegen den Widerstand des SVP mit komfortabler Mehrheit angenommen. Der neue Text von Artikel 50 des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) geht nun zur Beratung an die SPK des Ständerats. Die aktuelle Version gilt für den Fall, dass eine Familiengemeinschaft wegen häuslicher Gewalt aufgelöst wird: Neu haben die Opfer von häuslicher Gewalt Anspruch auf weiteren Aufenthalt in der Schweiz, auch wenn sie bloss den Ausweis B, L oder F haben. Auch der Bundesrat befürwortet diese Änderung. Sosf hat sich – ebenfalls befürwortend – an der Vernehmlassung beteiligt

 

Die grosse Kammer stimmt nach dem Ständerat mehrheitlich dafür, dass der Bundesrat in Brüssel Druck macht, damit Italien Dublin-Rückführungen wieder zulässt

Seit die Regierung Meloni an der Macht ist, nimmt Italien keine Geflüchteten mehr zurück, für die es gemäss der Dublin-Verordnung zuständig wäre. Die Motion von Ständerat Damian Müller will den Bundesrat verpflichten, mit Hilfe von anderen Mitgliedstaaten bei der EU-Kommission darauf hinzuwirken, dass Italien seinen Verpflichtungen nachkomme. Der Nationalrat hat diesen Vorstoss in der Wintersession debattiert und – gegen den Widerstand der von Céline Widmer, SP ZH, vertretenen Kommissionsminderheit, die von Symbolpolitik spricht – deutlich angenommen. Die Minderheit weist zu Recht darauf hin, dass die Schweiz trotz der Weigerung Italiens stark vom Dublin-Abkommen profitiert: Sie kann dreimal so viele Asylsuchende an die EU-Staaten zurückweisen, als sie von diesen zurücknehmen muss. Unter diesen Umständen wird die EU-Kommission den wichtigen Mitgliedstaat Italien kaum ernsthaft an die Kandare nehmen.

 

Beide Räte haben den Bundesrat verpflichtet, in Brüssel Sanktionen gegen Algerien zu verlangen, weil das Land abgewiesene Geflüchtete nicht zurücknehme

In der Wintersession hat auch der Nationalrat die Motion von Ständerat Damian Müller angenommen. Gegen seinen erklärten Willen muss nun der Bundesrat beim nächsten Treffen der Schengener Justiz- und Innenminister:innen Sanktionen gegen Algerien beantragen, die der Schengener Kodex vorsieht. 
Aus unserer Sicht stellt dieser Vorstoss eher Symbolpolitik dar, denn er rennt offene Türen ein: Die Schweiz kann seit Frühjahr 2023 – mit Zustimmung von Algerien - auch zwangsweise Rückführungen vornehmen. Ob die EU-Kommission Algerien sanktioniert, bleibt deshalb ungewiss. 

 

Der Nationalrat stimmt mit dem Ständerat für ein Konzept, das die Zahl der Rückführungen und Ausweisungen erhöhen soll. Der Bundesrat steht nun in der Pflicht

Die vom Ständerat angenommene Motion von Werner Salzmann wurde in der Wintersession vom Nationalrat deutlich angenommen. Bundesrätin Baume-Schneider wehrte sich erfolglos mit dem Argument, die Vollzugsquote sei 2022 bei 57% gelegen und gesteigert worden. Die Debatte ergab keine klaren Hinweise darauf, welche Massnahmen der Bundesrat nun ergreifen soll. Vermutlich wird der neu zuständige Beat Jans auf die Bemühungen des Bundesrates hinweisen, zusätzliche Migrationspartnerschaften und –Abkommen, z.B. mit Irak, abzuschliessen

 

Knapp verworfen hat die grosse Kammer die ständerätliche Motion, mit der das Resettlement-Programm für 2024/2025 gestoppt werden sollte

Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR beantragt jährlich bei reicheren Staaten die Aufnahme und Unterbringung von besonders verletzlichen Geflüchteten, nachdem es deren Schutzbedarf selber abgeklärt hat. Die Schweiz übernimmt seit einigen Jahren (wieder) jährlich zwischen 1500 und 2000 solche Personen vom UNHCR. Der Nationalrat hat die Ablehnung, die mit hohen Asylzahlen im laufenden Jahr begründet worden war, - zum Glück - knapp verworfen.

 

Der Nationalrat versenkt Damian Müllers Eritrea-Pilotprojekt äusserst knapp
Der Vorstoss wollte den Bundesrat verpflichten, ein Projekt auszuarbeiten, das die Wegweisung abgewiesener eritreischer Asylsuchender in einen Drittstaat ausserhalb des Schengenraums ermöglichen solle. Fast zufällig, mit 91 zu 96 Stimmen, hat der Nationalrat eine weitere Motion von Damian Müller verworfen. Sie ist damit vom Tisch. Aber eine sehr ähnlich lautende Motion der FDP hat Petra Gössi am 21. Dezember im Nationalrat eingereicht.

Die FDP und SVP betreiben seit Jahren auf dem Rücken von Geflüchteten populistische Politik. So begründete etwa Damian Müller seine Motion so: Es sei unhaltbar, dass abgewiesene Asylsuchende aus Eritrea auf Kosten der Schweizer Sozialhilfe hier blieben und das sei auch ungerecht gegenüber andern, die die Schweiz sogar zwangsweise wegegewiesen werden könnten. Der Bundesrat müsse deshalb so bald als möglich ein Land finden, das zu ihrer Übernahme bereit sei und dann einen «Mechanismus» zur Rückführung entwickeln – gemeint sind Geldzahlungen. 

Der Bundesrat wandte sich bereits im Ständerat und Elisabeth Baume-Schneider auch im Nationalrat entschieden gegen ein solches Pilotprojekt: Die Zahl ausreisepflichtiger Eritrer:innen liege stabil bei rund 300 Personen. Ausreisepflichtige könnten nur Nothilfe beziehen und von eritreischen Personen würden bloss 57% Nothilfe beanspruchen. Der Vorstoss betreffe nur einen kleinen Personenkreis und sei zudem aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht realisierbar. Das Asylgesetz lasse eine Wegweisung in einen Drittstaat nur zu, wenn die betroffene Person einen Bezug zu diesem habe. Zudem enthalte es keine Rechtsgrundlage für die Finanzierung des Projekts. Und die Schweiz müsste als Verantwortliche für die Wegweisung garantieren können, dass das Aufnahmeland alle menschenrechtlichen Standards einhalte. Das Urteil des britischen Supreme Court betreffend Rwanda zeige, dass dies kaum möglich sei. Davon abgesehen habe das Vereinigte Königreich bereits 133 Millionen Pfund Sterling bezahlt, ohne dass Rwanda eine einzige Person zurückgenommen habe – für die Schweiz werde mit etwa  188'000 Franken Aufwand pro Person gerechnet. Deshalb sei es nur schon sehr schwierig, ein solches Drittland zu finden.

Auch die Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats wandte sich gegen Müllers Motion. Es seien, erstens, viele offene Fragen nicht geklärt. Zweitens werden 80% der eritreischen Asylgesuche von in der Schweiz geborenen Kindern gestellt, die naturgemäss keinerlei Beziehung zu Eritrea haben. Und auch die kleine Anzahl betroffener Personen spreche dagegen.

Die Minderheit der Kommission wollte trotzdem am Pilotprojekt festhalten. Es könne eine abschreckende Wirkung entwickeln.

Kommentar: Aus Sicht von sosf betreibt das «Pilotprojekt Eritrea» populistische Symbolpolitik, die nur der Stimmungsmache dient. Eritreische Menschen werden dadurch in der Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen in der Diaspora zusätzlich stigmatisiert. Der summarisch geschilderte Verlauf der Diskussion im Nationalrat zeigt, dass rationale Argumente überzeugen können. Aber das sehr knappe Abstimmungsergebnis lässt in Zukunft Schlimmeres befürchten. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben. 

 

Eine Motion der Finanzkommission des Ständerats wollte die Kapazitäten für die Unterbringung von Asylsuchenden durch den Bundesrat «strategisch planen» lassen 

Hintergrund des Vorstosses war der vom Ständerat im Sommer versenkte Plan von Elisabeth Baume-Schneider, Containerdörfer für Geflüchtete zu finanzieren. Stattdessen müsse nun der Bundesrat «strategisch planen». Der Nationalrat lehnte die Motion äusserst knapp, mit nur einer Stimme Unterschied, ab. Es liegt auf der Hand, dass der Bundesrat und insbesondere das SEM trotzdem die zukünftigen Asylzahlen und die benötigten Unterbringungsplätze vorausschauend, also strategisch, planen müssen, zumal nun im Kanton Zürich sogar Familien gezwungen sind, in unterirdischen Zivilschutzanlagen zu leben. Immerhin regte sich dagegen starker Widerstand: Eine Petition von fast 7500 Unterschriften fordert einen sofortigen Stopp dieser Praxis

 

Der Nationalrat will, dass Geflüchtete mit Schutzstatus S einen Stellenantritt nur noch melden, statt bewilligen lassen müssen. Dies soll den Beschäftigungsgrad ukrainischer Geflüchteter erhöhen

Der Rat hat diese Motion seiner staatspolitischen Kommission gegen den Widerstand der SVP-Fraktion angenommen. Nun ist die ständerätliche Kommission am Zug. 

 

Der Ständerat hat eine Motion von Thomas Minder angenommen, wonach der Bundesrat beauftragt werden soll, mit dem Staat Eritrea Verhandlungen zu einem Migrationsabkommen oder einer Migrationspartnerschaft aufzunehmen

Der Vorstoss wird als Nächstes in der nationalrätlichen Kommission diskutiert. 

 

Nicht über den Ständerat hinaus kam eine zweite Motion von Thomas Minder

Minder wollte den Bundesrat beauftragen, dass Afghanistan für männliche Staatsbürger als «Save Country» gelte, dass er zweitens ein Rücküberstellungsabkommen für Sekundärmigration mit Österreich aushandeln müsse, dass er drittens für männliche afghanische Migranten mit illegalem Aufenthalt die Rücküberstellung auch im Fast-Track-Verfahren anstrebe und er viertens mit Afghanistan ein Migrationsabkommen bzw. eine Migrationspartnerschaft aushandle.

Die Motion erhielt nur acht Stimmen, nicht einmal die von Damian Müller, und wurde mit 32 Stimmen abgelehnt. Dass Afghanistan ein sicheres Land sei, in welches man abgewiesene Geflüchtete abschieben könne, überzeugte kaum. Und auch die weiteren Forderungen sind entweder schon umgesetzt oder gingen offensichtlich zu weit.

 

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