Zeigt der Nationalrat Mut oder will er Schweizer:innen weiterhin weniger Rechte als EU-Bürger:innen einräumen?
Am 10. Juni 2024 entscheidet der Nationalrat, ob Schweizer:innen beim Familiennachzug mit EU-Bürger:innen gleichgestellt werden oder weiterhin diskriminiert bleiben. Vorschau auf eine unendliche Geschichte.
Die Schweiz hat am 1. Juni 2002 die Personenfreizügigkeit mit der EU vereinbart. Sie erlaubt grundsätzlich allen Bürger:innen der EU, mit ihren Familienangehörigen ohne wesentliche Beschränkungen in der Schweiz zusammenzuleben. Im Gegenzug können auch Schweizer:innen Ihre Angehörigen in irgendein EU-Land nachziehen. Dieses Prinzip hat die Schweiz – und die Migrant:innen in ganz Europa – weitergebracht.
Im Frühjahr 2002 hat der Bundesrat dem Parlament die Botschaft für ein neues Ausländergesetz unterbreitet. Der Entwurf für das AuG sah vor, dass Schweizer:innen beim Familiennachzug mit EU- und EFTA-Bürger:innen gleichgestellt werden sollten. Gleichwohl beschränkte er den Nachzug von ausländischen Kindern, die keinen EU-Pass haben, - je nach ihrem Alter - mit einer fünfjährigen bzw. zwölfmonatigen Frist. Danach war ein Familiennachzug nur noch „aus wichtigen Gründen“ möglich, somit fast immer ausgeschlossen.[1]ˈ[2]Das Parlament übernahm diese Einschränkungen der Personenfreizügigkeit ins Gesetz, welches schliesslich am 1.1.2008 in Kraft trat.
Zementiert wurde damals eine klare Schlechterstellung von Schweizer:innen gegenüber EU- und EFTA-Bürger:innen, die ihre Kinder seit Juni 2002 ohne weiteres in die Schweiz bringen konnten. Begründet wurde diese einerseits nachvollziehbar mit eventuellen sprachlichen und schulischen Integrationsproblemen von aus Drittstaaten stammenden Kindern. Aber auch das Argument, beim Familiennachzug aus Drittstaaten könne die Schweiz die Einwanderung noch selber steuern, was ihr sonst gegenüber der EU-Personenfreizügigkeit verwehrt werde, spielte eine wichtige Rolle. Die alte Platte, also, schon damals. Und eine weitere, für die schweizerische Migrationspolitik typische Einwanderungshürde gegenüber Staatsangehörigen ohne EU- bzw. EFTA-Pass.
Die Rolle des Bundesgerichts
Wenig später nach dem Inkrafttreten des AuG hatte das Bundesgericht eine Beschwerde eines Vaters zu beurteilen, der seine serbischen Kinder in die Schweiz bringen wollte, nachdem ihm das Sorgerecht übertragen worden war, weil die in Serbien lebende Mutter nicht mehr willens und in der Lage war, sich um die Kinder zu kümmern. Zürcher Behörden hatten den Nachzug abgelehnt. [3] Mit Blick auf die Praxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg (EGMR)[4] kam das Gericht zum Schluss, das geltende AuG diskriminiere Schweizer:innen zwar beim Nachzug ihrer ausländischen, aus Drittstaaten stammenden Kinder und dafür geben es keine sachlichen Gründe. Und das Gesetz verletze den Grundsatz der Gleichbehandlung und das Recht auf ein ungestörtes Familienleben. [5] Gleichwohl liege es nicht am Bundesgericht, sondern am Gesetzgeber, d.h. dem Parlament, diese Diskriminierung mit einer Änderung des geltenden Rechts zu beseitigen.
Langfädige und harzige Gesetzgebung
Ende der Nullerjahre scheiterten zwei Parlamentarische Initiativen, die nach dem bundesgerichtlichen Urteil SP-Nationalrat Tschümperlin (SP) ergriffen hatte, am Widerstand der bürgerlichen Mehrheit. Offensichtlich blieb der Anspruch, Schweizer:innen beim Familiennachzug mit Europäer:innen gleichzustellen, ein blosses Lippenbekenntnis. Danach geschah erst einmal jahrelang nichts mehr, bis Nationalrat Barrile (SP) im Sommer 2019 eine weitere parlamentarische Initiative einreichte. Auch sie will die bestehende Ungleichbehandlung ganz beseitigen und wurde von Anfang an auch von den Grünen unterstützt. [6]
Im August 2020 hat die Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats der Initiative zugestimmt. Die Schwesterkommission des Ständerats wandte sich aber im November 2020 dagegen, während die nationalrätliche Kommission im Februar 2021 weiterhin am Projekt festhielt und dem Nationalrat Zustimmung beantragte. Der Gesamtrat stimmte am 8. Juni 2021 mit 137 zu 54 Stimmen zu, worauf die ständerätliche Kommission am 25. Juni 2021 ihren früheren Entscheid revidierte und ebenfalls zustimmte.
Die SPK-N verabschiedete daraufhin am 1.9.2022 einen Vorentwurf, den sie in die Vernehmlassung gab, die bis zum 9. Dezember 2022 dauerte. [7] Die an der Vernehmlassung Beteiligten stimmten mehrheitlich zu, bis auf einige Kantone und die SVP.
Allein schon dieses Hin und Her zeigt, wie harzig, zeitraubend und schwerfällig migrationspolitische Gesetzesprojekte im Parlament behandelt werden, die bloss eine rechtliche Gleichstellung erreichen wollen, was – nicht nur in den Augen des Bundesgerichts - zwingend wäre. Umso schwieriger sind Gesetze zu etablieren, die migrationspolitische Einschränkungen beseitigen oder Erleichterungen einführen möchten.
Am 11. Mai 2023 folgte in der SPK-N die Detailberatung der Vorlage. Die Kommissionmehrheit kam jedoch von der vollständigen Gleichstellung ab und verschärfte das Gesetzesprojekt gegenüber dem ersten Entwurf mit einschränkenden Voraussetzungen um Sozialhilfeabhängigkeit und Integrationsprobleme zu begrenzen. [8]
Showdown im Nationalrat – Hoffnung darauf, dass sich die Vernunft durchsetzt
Und nun geht es am 10. Juni 2024 um die Wurst: Stimmt der Nationalrat dem Entwurf zu und teilt er die Bedenken der Kommissionsmehrheit? Nur die SVP ist offen dagegen. Aber die über zehnjährige Entstehungsgeschichte, die nicht immer eindeutigen Mehrheitsverhältnisse in den Kommissionen und das neue, bürgerlich dominierte Parlament stellen unsere Hoffnung, dass der störende Zopf endlich abgeschnitten und die Diskriminierung von Schweizer:innen beim Familiennachzug endlich beseitigt wird, in Frage. Immerhin zeigt diese Geschichte auch, dass die Linke mit ihrem hartnäckigen Einsatz in der Lage ist, eigene migrationspolitische Akzente zu setzen.
[1] Botschaft des Bundesrats zum AuG vom 8.3.2002, BBl 2002 3792ff.
[2] Art. 42 und 47 des Ausländergesetzes vom 1.1.2008
[3] Urteil des Bundesgerichts 2C_135/2009 vom 22.1.2010
[4] Urteile „Akrich“ und Metock“ des EGMR
[5] Art. 14 und Art. 8 Ziffer 1 EMRK
[6] Beseitigung und Verhinderung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug, Geschäftsnummer der Parlamentsdatenbank PI 19.464 von NR Angelo Barrile
[7] Die Vorlage würde die Bestimmung des AIG aufheben, wonach die aus Drittstaaten stammenden Familienangehörigen in aufsteigender Linie und diejenigen in absteigender Linie unter 21 Jahren für den Nachzug zu Schweizerinnen und Schweizern im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines Mitgliedstaats der Europäischen Union (EU) oder der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) sein müssen (Art. 42 Abs. 2 AIG). Ausserdem würde die Bestimmung Artikel 42 Absatz 1 AIG aufgehoben, wonach ausländische Ehegatten und ihre Kinder unter 18 Jahren mit der nachziehenden Schweizerin oder dem nachziehenden Schweizer zusammenwohnen müssen, wenn sie nicht im Besitz einer dauerhaften Aufenthaltsbewilligung eines EU/EFTA-Mitgliedstaats sind. Damit dürften Schweizer:innen auch ihre Angehörigen aus nicht EU-/EFTA-Staaten nachziehen. Eine weitere Bedingung für den Nachzug dieser Personen ist jedoch wie bisher, dass ihnen Unterhalt gewährt wird und eine «bedarfsgerechte Wohnung» vorhanden ist.
[8] Um das Risiko der Sozialhilfeabhängigkeit der nachzugsberechtigten Familienangehörigen von Schweizerinnen und Schweizern zu begrenzen, hat die Mehrheit der Kommission beschlossen, dass die Erteilung oder Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für Familienangehörige künftig vom Abschluss einer Integrationsvereinbarung abhängig gemacht werden kann, wenn ein besonderer Bedarf dafür bestehen sollte (Art. 42 Abs. 2 E-AIG i. V. m. Art. 58b Abs. 4 E-AIG). Eine Minderheit lehnt diese Möglichkeit ab, da sie eine neue Ungleichbehandlung zwischen Schweizer Staatsangehörigen und EU/EFTA-Staatsangehörigen beim Familiennachzug mit sich bringe.