Soziologin und Menschenrechtsverteidigerin Pinar Selek erneut von der türkischen Justiz bedroht

Artikel
Pinar Selek

Pinar Selek studierte in den neunziger Jahren an der Universität Istanbul und beschäftigte sich in ihrer Arbeit mit der Behandlung von Minderheiten durch die türkische Regierung. Für ihre Forschungen trifft sie Strassenkinder, streift mit ihnen durch Istanbuler Parks, interessiert sich für die kurdische Bewegung und dokumentiert die Verfolgungen, denen ihre Aktivisten ausgesetzt sind. Das gefällt den Machthabern nicht, die von ihr verlangen, dass sie die Identitäten der Personen preisgibt, die sie für ihre Recherchen befragt hat. Pinar weigert sich und wird mehr als zwei Jahre eingesperrt und muss zahlreiche Folterungen über sich ergehen lassen, an deren Ende sie sich immer noch weigert, zu kooperieren und die Namen herauszugeben. Die Geschichte dieser Inhaftierung sowie Pinar Seleks Werdegang sind in Guillaume Gamblins Buch zu finden, das wir wärmstens empfehlen.

In der Zeit, in der Pinar mit den türkischen Behörden über Kreuz lag, explodierte eine Gasflasche auf dem Gewürzmarkt in Istanbul. Mehr brauchte es nicht, um ihr dieses "Attentat" in die Schuhe zu schieben. Pinar Selek wurde viermal verurteilt, jedes Mal wurde sie freigesprochen. Inzwischen ist die Soziologin nach Frankreich geflohen, wo sie zunächst politischer Flüchtling und später französische Staatsbürgerin war. Sie lehrt Soziologie an der Universität Côte d'Azur in Nizza. Ihre Forschung und ihr militantes Engagement sind trotz der Drohungen ungebrochen. Pinar setzt ihren unermüdlichen Kampf für Freiheit, Frauenrechte, Minderheitenrechte und Geflüchteten fort.

Pinar Seleks Weg hat den von Sosf mehrfach gekreuzt, etwa während der Kampagne um die Petition Feminist Asylum oder bei der Verleihung des Preises der Offenen Alpen des Freundeskreises von Cornelius Koch. Bei dieser Gelegenheit hielt sie eine Rede, deren Poesie und Kampfgeist dazu ermutigen, Hoffnung und Energie zu bewahren. 

"Der Planet dreht sich. Auf diesem Planeten herrscht ein höllischer Kampf zwischen zwei Welten. Die Welt der Unterdrücker, der Herrschenden und die Welt der Glühwürmchen, die keine Sklaven sein wollen.

 [...]

Ich ergreife das Wort als Aktivistin, die zu dieser berühmten Welt der Glühwürmchen gehört, die diese ungerechte Welt nicht akzeptieren, die den Horror nicht hinnehmen und die Widerstand leisten. Die das Leben, die Schönheit und die Poesie verteidigen und erschaffen. Die ihre Lichter aus ihren Träumen nehmen und die leuchten, wenn es dunkel ist.

Ich gehe mit Ihnen als Exilantin, die Schwierigkeiten erlebt hat, die auf die andere Seite der Grenzen gegangen ist, aber auch auf die andere Seite der Beziehung: vom Solidargemeinschafter zum Opfer. Dank dieser Erfahrung habe ich mit Freude festgestellt, dass es den Herrschenden nicht gelungen ist, die Gesellschaft zu verderben, und dass es viele freie und schöne Frauen und Männer gibt.

[...]" Die vollständige Rede finden Sie hier.

Sosf wird immer auf der Seite der Glühwürmchen stehen. Sie sind der einzige Weg, den wir gehen können. 

Aus diesem Grund werden wir zu diesem x-ten Prozess nach Istanbul reisen. Wir müssen uns geschlossen gegen die Aggressionen von Staaten wehren, die das Recht auf freie Meinungsäusserung verletzen, ihre Gegner:innen unterdrücken und glauben, abweichende Stimmen durch Repressionen zum Schweigen bringen zu können, die Gerechtigkeit nur als Name tragen. 

Wir sind uns bewusst, dass der türkische Staat die Menschenrechtsverletzungen nicht im Alleingang begehen kann. Die europäischen Staaten tragen einen grossen Teil der Verantwortung für das türkische Verhalten. Wir lehnen das Migrationsabkommen zwischen Europa und der Türkei entschieden ab. Im Gegenzug für Milliarden hat sich die Türkei gegenüber der Europäischen Union verpflichtet, Asylsuchende, die die Grenze nach Griechenland überqueren wollen, auf ihrem Boden zu behalten. In ihrem Krieg gegen die Migration hat die Europäische Union kein Problem damit, sich mit autoritären Regimen zu verbünden, und die Schweiz profitiert davon. Trotz der von Europa errichteten Mauern gelingt es Menschen, aus der Türkei zu fliehen und in die Schweiz zu kommen. Und was macht das Staatssekretariat für Migration? Es schickt sie gewaltsam in das erste EU-Land zurück, das sie durchquert haben.

Überall und anderswo müssen wir unermüdlich für die Freiheit der Meinungsäusserung, der Forschung und des Dissenses kämpfen. Heute mit Pinar, morgen mit anderen, werden wir immer dafür kämpfen, dass politische Flüchtlinge von den Ländern oder Gemeinschaften geschützt werden, in denen sie ihr Leben und, wenn sie können, ihren Kampf fortsetzen wollen.

 

Bild: pinarselek.com