Nationalrat vor Weichenstellung beim EU-Asylpakt

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Zeichnung von einem Zelt, mit Kücheustensilien und Wasserflaschen

Effizient, krisenresistent, solidarisch: So beschreibt der Bundesrat das reformierte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), das von der Schweiz im Zuge des EU-Migrations- und Asylpakts in Teilen übernommen werden soll.


Ineffizient, krisenanfällig und unsolidarisch: So stellt sich der Pakt aus Sicht von Solidarité sans frontières und zahlreichen anderen Organisationen dar, die sich an der Vernehmlassung zur Übernahme des Pakts beteiligt haben. 


Ineffizient, da Schutzsuchende mit grossem Aufwand und unter Zwang in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, ohne dass die Ursachen der sogenannten «Sekundärmigration» reduziert würden.


Krisenanfällig, da die Staaten an den Aussengrenzen weiterhin keine Anreize haben, sich systemkonform zu verhalten und der neue Krisenmechanismus zum Normalzustand zu werden droht.


Unsolidarisch, da es nach wie vor keine gerechte Verteilung von Schutzsuchenden innerhalb Europas geben wird und die Verschärfungen im Dublin-Recht das Recht auf Asyl weiter aushöhlen werden.


Die Darstellung des Pakts durch den Bundesrat ist also irreführend. Zudem verzichtete er in seiner Botschaft für die Schweizer Umsetzung des Pakts auf jegliche Ausgleichsmassnahmen zu den massiven Verschärfungen im europäischen Asylrecht. Kaum ein Verbesserungsvorschlag aus dem Vernehmlassungsverfahren wurde aufgegriffen, sodass die Vorlage im Parlament nun dringend nachgebessert werden muss.

 

Was folgt auf Dublin?
In der Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung (AMMV), die die bisherige Dublin-Verordnung ersetzen wird, hält die EU am Prinzip der Zuständigkeit des Ersteinreise-Staates fest und weitet diese sogar aus. Auch in Zukunft werden die Mitgliedstaaten an den Aussengrenzen für einen Grossteil der Asylverfahren zuständig sein. Die naheliegende Option, Asylsuchende ihr Zielland selbst auswählen zu lassen oder bestehende Verbindungen, Sprachkenntnisse oder Familienangehörige im Zielland zu berücksichtigen, wurde versäumt. Durch weitere Verschärfungen und neue Sanktionsmöglichkeiten wird sich die Situation von Schutzsuchenden in Europa und der Schweiz zudem weiter verschlechtern.


Für die Schweiz besonders einschneidend ist, dass in Zukunft auch minderjährige Kinder und Jugendliche in EU-Länder ausgeschafft werden können. Zudem kann die Frist, innerhalb derer eine Überstellung vollzogen werden muss, neu auf drei Jahre verlängert werden (zuvor maximal 18 Monate). Auch die Gründe für eine solche Verlängerung der Überstellungsfrist wurden ausgeweitet: Neu reicht z.B. bereits eine Krankheit und damit einhergehende (Flug-)Untauglichkeit aus, um die Frist von sechs auf 36 Monate zu verlängern. Vielen Geflüchteten droht so jahrelange Unsicherheit, Illegalisierung und eine dauerhafte Verweigerung der Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit.


Diese und zahlreiche weitere Änderungen durch die AMMV sind für Asyl suchende fast durchgehend negativ und führen zu erheblichen Nachteilen gegenüber der derzeitigen Situation. Zu behaupten, wie es der Bundesrat tut, die Reform sei für die Schweiz nur technischer Natur und werde die Effizienz des Dublin-Systems steigern, ist irreführend.


Selbsteintritte? Fehlanzeige
Zudem verzichtet der Bundesrat bewusst auf nationale Massnahmen, die die massiven Verschlechterungen für Asylsuchende hätten abfedern können. Die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung würde Spielräume bieten, um die Situation von Asylsuchenden zu verbessern (z.B. durch längere Beschwerdefristen und kürzere Inhaftierung). Auch könnte die Schweiz verstärkt Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht machen; Asylgesuche also selbst materiell prüfen, obwohl theoretisch ein anderes Land dafür zuständig wäre.


Genau dies haben zahlreiche Organisationen, einschliesslich der SFH und des UNHCR, im Vernehmlassungsverfahren gefordert. Sie verlangten verbindliche Kriterien für Fälle, in denen die Schweiz selbst eine materielle Prüfung der Schutzgesuche vornimmt: z.B. für unbegleitete Minderjährige, in Krankheitsfällen, bei Krisen im Erstaufnahmeland, wenn Verwandte bereits in der Schweiz leben oder wenn absehbar ist, dass Dublin-Überstellungen nicht innerhalb von sechs Monaten durchgeführt werden können.


Der Bundesrat lehnte diese Forderung mit dem fadenscheinigen Argument ab, ein verbindlicher Kriterienkatalog würde es unter Umständen sogar erschweren, konkreten Einzelfällen gerecht zu werden. Es liegt nun an den progressiven und dem Asylrecht verpflichteten Kräften im Parlament, einen solchen Katalog mit Nachdruck einzufordern.


Falsch verstandene Solidarität
Stattdessen erklärte sich der Bundesrat bereit, auf freiwilliger Basis von Jahr zu Jahr zu prüfen, ob sich die Schweiz am neuen und für die EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Solidaritätsmechanismus beteiligt. Mit diesem Mechanismus sollen Asylsuchende aus den Staaten an der EU-Aussengrenze auf andere Mitgliedstaaten verteilt werden – es sei denn, letztere kaufen sich von der Übernahme frei und finanzieren stattdessen weitere Abschottungsmassnahmen.


Zahlreiche Organisationen hatten eine verbindliche und dauerhafte Teilnahme am Solidaritätsmechanismus verlangt, bei der auf Ausgleichszahlungen verzichtet werden sollte und ausschliesslich schutzsuchende Personen selbst übernommen werden sollten. Der Bundesrat sprach sich jedoch gegen eine solche verpflichtende Teilnahme aus und gab auch kein klares Bekenntnis zur Übernahme von Schutzsuchenden ab. So verkommen die EU-Solidaritätsmassnahmen zu einem wohlfeilen Ablasshandel, von dem sich das Parlament nicht blenden lassen sollte. 


Subsidiärer Schutz
Der EU-Asylpakt und das durch den Pakt reformierte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) basieren auf der Grundannahme, dass in allen teilnehmenden Staaten dieselben Aufnahme- und Schutzbedingungen vorherrschen. Selbst der Bundesrat betont, dass die Wirksamkeit der Reform von der konsequenten Umsetzung aller Vorschläge abhänge, weshalb er sich auf europäischer Ebene auch dafür einsetzt, dass die Reform als Ganzes wirksam wird.


Neben den durch ihre Schengen- und Dublin-Mitgliedschaft verbindlich zu übernehmenden Verordnungen enthält der Pakt aber auch Rechtsakte, die die Schweiz nicht übernehmen muss. Zu nennen ist hier insbesondere die Qualifikationsverordnung, die die Statusrechte von Personen regelt, die vor Kriegen und allgemeiner Gewalt geflohen sind, aber keine individuelle Verfolgung erlebt haben. Letztere erhalten in der EU den sogenannten «subsidiären Schutz» und sind dadurch in Bezug auf den Zugang zu Arbeit, zu Sozialleistungen und zur Bewegungsfreiheit sowie mit Blick auf ihre Zukunftsperspektiven deutlich bessergestellt als Menschen, die in einer vergleichbaren Situation in der Schweiz nur vorläufig aufgenommen werden.


Im Sinne einer einheitlichen Umsetzung der Reform und um alle Personen mit Schutzbedarf – zu denen offensichtlich auch vorläufig aufgenommene Menschen gehören – gleich zu behandeln, sollte die Schweiz auch die Elemente der GEAS-Reform übernehmen, die die Situation von Geflüchteten in der Schweiz verbessern könnten. Eine Angleichung der Statusrechte von vorläufig Aufgenommenen an die der neuen Qualifikationsverordnung wäre ein wichtiger Kontrapunkt zur durch die Reform drohenden Aushöhlung des Asylrechts.


Aber auch diesen Vorschlag hat der Bundesrat abgelehnt. Er entschied sich stattdessen für eine Umsetzung des Migrations- und Asylpakts, die das Recht auf Asyl geringschätzt und nicht zu einer Verbesserung der ohnehin schon prekären Situation von Schutzsuchenden in der Schweiz beitragen wird. Die Spielräume, die der EU-Gesetzgeber lässt, müssen daher nun im Parlament eingefordert werden.

 

Dieser Text erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2 / 2025.