Inländer:innen-Diskriminierung beim Familiennachzug: Never ending story?

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Seit einem Bundesgerichtsurteil vom Herbst 2009 (Urteil 2C_196/2009 vom 29.9.2009) steht das Nachzugsrecht von Schweizer:innen im Parlament zur Diskussion. Sie dürfen vorehelich geborene Kinder und betagte Eltern, die Pflege benötige, nicht in die Schweiz bringen, während dies in der Schweiz lebenden Menschen mit einem EU-Pass erlaubt ist. Das Bundesgericht hatte schon im Herbst 2009 vom Parlament verlangt, dass diese verfassungswidrige Ungleichbehandlung abgeschafft werde.

 

Sosf hat am 27. Mai 2024 die Parlamentarische Initiative 19.464 von Angelo Barrile (SP, ZH) besprochen, welche seit Sommer 2019 die Räte beschäftigt und die Ungleichbehandlung von Schweizer:innen beim Familiennachzug gegenüber EU-Bürger:innen beseitigen will.

 

Am 20. Juni 2024 haben wir über die Debatte im Nationalrat berichtet und darüber, wie der Fraktionschef der Mitte versucht hatte, die SVP-Vertreter:innen rechts zu überholen. Dem blieb kein Erfolg beschieden und am Ende erreichten SP, GPS und GLP mit 98 zu 93 Stimmen bei 6 Enthaltungen eine Mehrheit für die Abschaffung der Inländer:innendiskriminierung, wenn auch in leicht abgeschwächter Form.

 

Nachdem die Staatspolitische Kommission des Ständerats in einer ersten Runde dem Geschäft am 25. Juni 2021 «Folge gegeben» hatte, stand die abgeschwächte Vorlage dort am 21. August 2024 wieder zur Diskussion. Mit Stichentscheid des Präsidenten, Ständerat Daniel Fässler (AI), beantragt sie nun dem Ständerat, nicht auf das Geschäft einzutreten und es so zu versenken. 

 

Ihre erstaunliche Kehrtwendung begründet die Kommissionsmehrheit mit dem Argument, dass es nicht abschätzbar sei, wie viele Migrantinnen und Migranten aufgrund der geplanten Gesetzesänderung zusätzlich in die Schweiz kommen werden. Ohne Klarheit über die zu erwartende zusätzliche Einwanderung wäre in ihren Augen die Annahme ein politisch nicht vertretbarer Sprung ins Ungewisse. Es sei nicht auszuschliessen, dass die Gesetzesänderung zu einem nicht absehbaren Zuzug in die Schweiz führe. Zudem sehe die Mehrheit nicht, inwiefern für diese Änderung dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht und verweist auf Artikel 121a der Bundesverfassung, wonach die Schweiz seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig steuere.

 

Dieser Gesinnungswandel ist nicht allein mit der veränderten Zusammensetzung der Räte seit den Wahlen von 2023 erklärt werden. Es scheint vielmehr so, dass die Mitte, die selbsternannte Familienpartei, die im Ständerat 15 Mandate hält, einen zusehends migrationsfeindlichen Kurs anstrebt und nicht einmal vor verfassungswidriger Diskriminierung Halt macht. Dazu passt, dass die Mitte, wie die Tamedia berichten, mit der SVP die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebotene Verkürzung der Wartefrist beim Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen ablehnt.

 

Da eine Statistik fehlt, kann niemand genau abschätzen, wie viele Nachzugsgesuche bei der Annahme der Novelle gestellt würden. Erfahrene Praktiker:innen des Migrationsrechts sind jedoch davon überzeugt, dass es jährlich um verschwindend wenige Fälle gehen dürfte. Diese Menschen werden allerdings bei der aktuellen, seit mehr als 15 Jahren bestehenden Rechtslage erheblich diskriminiert. Deswegen besteht dringender Handlungsbedarf. Die bürgerliche Kommissionsmehrheit, die sonst die Rechte der Schweizer:innen gegenüber Ausländer:innen hochhält, müsste hier nachziehen und die Diskriminierung, die das Bundesgericht schon 2009 verurteilte, endlich beseitigen. Warten wir ab, wie der Ständerat entscheidet.