Nationalrat Nicolas Kolly profitierte Dienstagmorgen von einem ganzseitigen Interview in La Liberté. Zahlreiche andere Tageszeitungen haben den Inhalt der Pressemitteilung und -konferenz der SVP zu ihrer Initiative für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ebenfalls übernommen. Angesichts der voreiligen Schlussfolgerungen, die einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Migration herstellen und die dazu dienen, weiteren Abbau der Rechte von Menschen auf der Flucht zu rechtfertigen, ist es entscheidend, die Lage auf der Grundlage verfügbarer konkreter Zahlen und Daten sowie der direkten und täglichen Erfahrung mit den Bewohner:innen des Guglera-Zentrums aufzuklären.
Erstens machen sich ausländische Personen überwiegend für Straftaten schuldig, die nur sie begehen können. Dies lässt sich anhand der Statistik 2023 der Freiburger Polizei verdeutlichen: Die Straftaten, welche Asylsuchenden angelastet werden, sind zu 71 % mit dem Aufenthaltsstatus verbunden. Dazu zählen beispielsweise der illegale Aufenthalt (der Aufenthalt in der Schweiz nach einem negativen Asylentscheid, z.B. in Erwartung einer Rückführung) oder die Verletzung des Rayonverbots.
Zweitens, sind zwei der ausschlaggebendsten Kategorien der Kriminalität das Geschlecht (Männer sind von 85% der Verurteilungen betroffen) und der wirtschaftliche Hintergrund (Personen aus niedrigen Schichten sind für 60% der Straftaten verantwortlich). In der zweiten Kategorie sind Ausländer:innen, insbesondere Asylbewerber:innen, überrepräsentiert.
Drittens, und das ist die Folge des zweiten Punktes, sind ausländische Personen vor allem der Kleinkriminalität verantwortlich. Diese werden auch als Notstandsdelikte bezeichnet: Diebstahl, Raub, illegale Beschäftigung usw. Ausländische Personen sind weniger häufig an der Begehung schwerer Verbrechen beteiligt. Unter dem Gesichtspunkt des Schadens, welcher der Gesellschaft zugefügt wird, wäre es relevant zu fragen, ob Steuerhinterziehung oder missbräuchliche Löhne und Boni nicht mehr Aufmerksamkeit verdienen sollten als kleinere Straftaten, die von einigen hundert Personen in prekären Verhältnissen begangen werden.
Es ist besorgniserregend, dass ein gewählter Volksvertreter vereinfachende Argumente verwendet, um schwere Verstösse gegen internationale Konventionen zu legitimieren, während er einen irreführenden. Gebrauch von Zahlen macht:
Er behauptet, dass die Schweiz "jedes Jahr 50'000 Menschen aufnimmt". Differenzieren wir : Im Jahr 2023 verzeichnete die Schweiz laut der Statistik des SEM 30'223 Asylgesuche, einschliesslich Geburten, Familienzusammenführungen und sekundäre oder mehrfache Asylgesuche (nach einer Rückkehr in die Schweiz oder einer Änderung der Praxis) . Dies heisst nicht, dass alle diese Personen "aufgenommen" wurden: einige sind hier geboren, andere waren bereits im Land, und viele befinden sich noch im Verfahren oder in der Abschiebungsinstanz. Hinzu kommen 23’012 Schutzanträge von ukrainischen Personen, die einen S-Status erhalten, ohne das Asylsystem zu durchlaufen. Das Jahr 2023 zeichnet sich zudem durch eine besonders hohe Anzahl an Gesuchen aus. Der Durchschnitt der letzten zehn Jahre liegt eher bei 22'000 Anträgen.
Die Schutzquote für Asylsuchende in der Schweiz ist hoch: Im Jahr 2023 erhielten 25.7% der Personen Asyl und 54.4% eine vorläufige Aufnahme (ein Schutzstatus, der den Aufenthalt in der Schweiz und den Bezug von 60% der Sozialhilfe erlaubt). Unter den abgelehnten Asylanträgen gibt es die sogenannten Dublin-Nichteintretensentscheide, bei denen keine Entscheidung in der Sache getroffen wird, da ein anderer Staat für die Prüfung des Antrags zuständig ist. Alles in allem sind zumindest fast 80% der Anträge auf Schutz begründet. Es geht also nicht darum, "alle aufzunehmen", sondern darum, das Völkerrecht zu respektieren. Die Schweiz kann nicht einfach eine Quote für Schutzbedürftige beschliessen, das würde gegen internationale Konventionen verstossen, darunter auch die Menschenrechtskonventionen, die der Bund unterzeichnet hat.
Es wäre naiv, zu leugnen, dass es Kriminalität gibt und dass rund um das Bundeszentrum Giffers alles rosig ist. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind schwierig. Die Bewohner:innen leben in komplizierten persönlichen Situationen, da es sich um ein Ausschaffungszentrum handelt, und haben einen prekären Alltag. Laut mehreren Berichten von NGOs und der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter, ist das Personal der Zentren nicht ausreichend und nicht gut genug ausgebildet, was zu schwierigen Situationen in der Vergangenheit geführt hat. Dennoch wurden Lösungen gefunden dank der Zusammenarbeit zwischen Freiwilligen der Zivilgesellschaft, Polizei, Bewohner:innen und Personal des Zentrums.
Laut Magdalena Waeber, Freiwillige in der Gruppe "Flüchtlinge Willkommen im Sensebezirk" und Leiterin der Plattform für Zivilgesellschaft in Asyl-Bundeszentren ist die Situation rund um das Bundesasylzentrum ruhig: «Die Massnahmen, die in den letzten Monaten und Jahren ergriffen wurden, haben dazu beigetragen, die Situation in der Guglera zu beruhigen. Die Zahlen, die kürzlich anlässlich des Treffens der Kontaktgruppe im Juni präsentiert wurden, bestätigen die alarmierenden Aussagen der SVP nicht. Die Kantonspolizei und die Gemeinden lassen verlauten, dass die Situation rund um das Zentrum derzeit ruhig ist und die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Partnern gut funktioniert. Die TPF (lokale Partner für den öffentlichen Verkehr) geben ebenfalls an, dass es praktisch keine Vorfälle wie 2023 mehr gibt (z. B. Schwarzfahren). Die Freiwilligen sind mehrmals pro Woche im und um das Zentrum tätig und berichten, dass es keine Vorkommnisse gab. Stattdessen berichten sie von berührenden, menschlichen Begegnungen mit den Bewohner*innen, die von Dankbarkeit, Solidarität und gutem Austausch geprägt sind.»
Vielleicht wäre es hilfreich, wenn die SVP-Kader das Guglera-Zentrum besuchen würden. So könnten sie Asylbewerber:innen treffen und die Realität aus der Nähe sehen, was ihre Sicht der Dinge bereichern könnte. Die von Vorurteilen und Verachtung geprägte Rede zeigt deutlich, dass sie über Personen und Umstände sprechen, die sie nicht kennen.
Eine gemeinsame Stellungnahme der ZiAB und Solidarité sans frontières